1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Meine zweite Berlinale

8. Februar 2010

Die Berlinale wird dieses Jahr 60. Zum Geburtstag hatten die Macher eine besondere Idee: Die Zuschauer sollten ihre bewegensten Berlinale-Momente schildern. Da muss unser Autor gleich 27 Jahre zurück blicken.

https://p.dw.com/p/Lj6e
Das Berliner Kino Delphi am Zoo (Foto: flickr.com/woody196)
Mythischer Berlinale-Ort: der Delphi FilmpalastBild: by-nc-nd/woody1969/flickr

1983, es war meine zweite Berlinale. Die Stadt war noch geteilt, mit dem Auto näherte man sich der Grenze mit einem gewissen Unbehagen. Die Kontrollen an den innerdeutschen Übergängen hat wohl niemand vergessen, der einmal an den kargen, grauen Wärterhäuschen ausharren musste. War man aber einmal in der Stadt und schnupperte Festivalluft, fiel die Beklemmung ab, das Kino rief. Das Angebot der verschiedenen Programm-Sektionen der Berlinale war schon damals groß und unübersichtlich. Und das Bedauern über die vielen verpassten Filme war manchmal stärker als die Freude über die, die man dann sah.

Große Tanzgesellschaft auf Rollschugen - Szene aus Heavens´s Gate (Foto: BOX||rights=RM)
Tanz auf Rollschuhen: "Heavens´s Gate"Bild: picture alliance / kpa

...ein Abend im Delphi

Das Internationale Forum, dass 1983 zum 13. Mal stattfand, hatte sich in den frühen 80er Jahren als Gegenveranstaltung zum Wettbewerb etabliert und überstrahlte so manches Mal die eigentliche Hauptreihe mit den Bärenbewerbern. Auch in diesem Jahr war das so, zumindest an einigen Tagen. Ein solcher war auch der 28. Februar, der vorletzte Festivaltag. Wie heute noch war das altehrwürdige Delphi-Kino am Zoo das Zentrum der Forumsreihe und der Andrang war auch an diesem Abend groß. Schon früh versammelten sich die Filmfans aus aller Welt im engen, stickigen Foyer des Kinos. Um auch sicher hineinzukommen, standen viele schon über eine Stunde vor Beginn der Vorstellung vor den Saaltüren. Man blätterte im Festivalkatalog oder schwatzte mit seinem Nachbarn.

Um 19:00 Uhr stand ein russischer Film auf dem Programm, "Agonia" von Elem Klimow, 150 Minuten Spieldauer, danach, um 22:30 Uhr sollte der amerikanische Film "Heaven´s Gate" von Regisseur Michael Cimino folgen, Länge 245 Minuten. Die 00:15 Uhr-Vorstellung entfiel laut Programm wegen Überlänge des vorangegangenen Films. Und da man als "richtiger" Berlinalefan morgens um neun mit dem Filmegucken angefangen hatte, war das Pensum des Tages schon beträchtlich. Auch ich hatte an diesem Montag schon drei oder vier Filme gesehen, an deren Titel ich mich allerdings nicht mehr erinnern kann.

Porträt Elem Klimow (Foto: dpa)
Elem KlimowBild: picture alliance / dpa / dpaweb

Zwei mythenumrankte Filme

Wohl aber an die beiden, die dann folgen sollten. Es wurde wohl für alle Anwesenden im Delphi-Kino ein denkwürdiger Filmabend. Aus vielerlei Gründen. Vor allem weil es zwei phantastische, beeindruckende Filme waren, überwältigend in ihrer Bildsprache, mit einer Wucht und Kraft erzählt, dass es einem schier den Atem verschlug - auch noch nach zehn Festivaltagen und all den Werken, die man gesehen hatte und die einem im Schädel herumschwirrten. Zwei Filme, die man auch nach fast drei Jahrzehnten Berlinale und hunderten von Kinobesuchen nicht vergessen hat.

Michael Cimino posiert mit Victory-Zeichen (Foto: dpa)
Michael CiminoBild: picture-alliance/dpa

Inzwischen sind es zwei geradezu mythische Werke der Filmgeschichte, vor allem "Heaven´s Gate" ist einer jener Filme, um die sich bis heute viele Legenden ranken, über die Bücher geschrieben wurden, unzählige Drehberichte kursieren. Regisseur Michael Cimino galt seit seinem Vietnam-Epos und Berlinale-Skandal "The Deer Hunter" als einer der wichtigsten Vertreter des Neuen Hollywood-Kinos, war oscardekoriert und hochangesehen - wenn auch nicht unumstritten. Mit "Heaven´s Gate" wollte er sich selbst übertreffen und man hatte schon vor der Vorstellung am Abend viel über den Film gehört.

Epischer Spätwestern

Dass er ein ganzes Studio in den Ruin getrieben habe, dass das Budget explodiert sei, dass Darsteller und Teammitglieder immer am Rande des Nervenzusammenbruchs gestanden hätten: All das sah man dem Film nicht an. "Heaven´s Gate" - ein epischer Spätwestern - erzählt die Auseinandersetzungen zwischen reichen Rinderfarmern und armen europäischen Einwanderern im ausgehenden 19. Jahrhundert in Wyoming. Zwischen den beiden männlichen Hauptfiguren entbrennt ein Streit, auch um eine Bordellchefin, gespielt von der jungen Isabelle Huppert.

Grigori Jefimowitsch Rasputin
Zeitgenössische Aufnahme von RasputinBild: dpa

"Heaven´s Gate" wurde damals im 70 mm-Format gezeigt, es gab nur eine einzige Kopie auf der Welt und die war in Europa zuvor nur zweimal vorgeführt worden. Ich war überwältigt nach diesen 245 Minuten, glücklich, aber auch ermattet. Schließlich war ich unmittelbar zuvor bereits für 150 Minuten tief in die russische Geschichte eingetaucht. "Agonia" hatte eine mitreißende Tour de Force durch das Russland des Zarenreiches geboten. Der Film schildert die Geschichte des charismatischen Wundermönchs Rasputin, der einige Jahre die Zügel am Zarenhof fest in der Hand hielt.

Kino der Perestroika-Ära

Das russische Kino stand damals im Zeichen von Glasnost und Perestroika, "Agonia", von Elem Klimow schon 1974 begonnen, war nach langen Irrwegen durch die russische Filmbürokratie erst Anfang der 80er Jahre fertig gestellt worden und erlebte nun bei der Berlinale seine Premiere. Ein monumentaler amerikanischer Geschichtswestern und ein sowjetisches Historienepos, beide zusammen fast 400 Minuten Film. Beides waren überwältigende Kinoerlebnisse. Ich hatte tatsächlich damals das Gefühl, einem historischen Berlinale-Abend beigewohnt zu haben. Und auch nach den 26 Festivaljahrgängen, die ich danach mitmachen durfte, nach den vielen, vielen Filmen, blieb dieser 28. Februar der für mich wohl unvergesslichste Berlinaleabend. Er hat sich wohl ewig eingebrannt in mein Kinohirn.

Autor: Jochen Kürten
Redaktion: Manfred Götzke