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Literatur

Herta Müller: "Atemschaukel"

Sabine Kieselbach
9. Oktober 2018

Ein Roman über die Schrecken eines stalinistischen Arbeitslagers kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieg. Die Geschichte eines 17-Jährigen, der als Rumäniendeutscher für die Verbrechen des NS-Regimes büßt.

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Deutschland Frankfurt Schriftstellerin Herta Müller
Bild: Daniel Roland/AFP/Getty Images

Dieses Buch ist keine Fantasie, sondern basiert auf den Erinnerungen des rumäniendeutschen Dichters Oskar Pastior, der – wie die Hauptfigur des Romans, der 17-jährige Leo Auberg – fünf Jahre seines Lebens in Lagerhaft verbracht hat. Und der auch nach seiner Entlassung aus dem Lager nie wieder in die Normalität zurückfand. Ein Schicksal, über das er jahrzehntelang nicht gesprochen hat.

Bis er seiner Freundin, der Schriftstellerin Herta Müller, in langen Gesprächen darüber berichtete. Daraus entstand der Wunsch, gemeinsam einen Roman zu schreiben. Es kam nicht dazu, Pastior starb 2006. "Atemschaukel" erschien drei Jahre später.

Sowjetische Gulags für Rumäniendeutsche – ein Tabu

Als Angehöriger der deutschsprachigen Minderheit in Rumänien wurde Oskar Pastior kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs und in den darauffolgenden Jahren in einen sowjetischen Gulag deportiert. Als Strafe und  Wiedergutmachung für die Verbrechen des NS-Regimes. 60.000 Menschen zwischen 17 und 35 Jahren erfuhren wie er Entbehrung, Hunger und  Verzweiflung. Im kommunistischen Rumänien war dieses Thema bis zum Zusammenbruch des Systems ein Tabu. Und es dauerte noch einmal 20 Jahre, bis Herta Müller ihren Roman veröffentlichte.

"Atemschaukel" von Herta Müller

Sprache als Rettung

"Atemschaukel" ist kein historischer Roman. Im Zentrum des Buches steht der  17-jährige Leo, der im Januar 1945 abgeholt und im Viehwaggon in ein Arbeitslager deportiert wird. Noch ahnt er nicht, was auf ihn zukommt, noch stellt er sich ein Abenteuer vor, sieht das Ganze als Möglichkeit, der familiären Enge zu entfliehen. Denn Leo ist homosexuell und hat Angst, dass ihn das ins Gefängnis bringen könnte. Schnell lernt er, dass das Lager keineswegs die Chance auf ein neues Leben bedeutet, sondern dass er erniedrigt werden soll, schuften muss für den Wiederaufbau der Sowjetunion. Leo spürt, wie sein Ich verschwindet, wie er abstumpft, weil alles Eigene verlorengeht, verloren gehen muss, um überleben zu können. Tief unten wütet immer der Hunger.

Allein die Sprache hilft ihm und den anderen Häftlingen, den Schrecken für Momente zu vergessen. Worte bieten Trost und Rettung.

Gulag Perm 36 - ehemalige Sowejtunion
Gulag Perm 36 - Das Arbeitslager am Dorf Kucino, 90 Kilometer östlich der Stadt Perm im Ural, ist das einzige erhaltene Arbeitslager auf dem Gebiet der ehemaligen SowjetunionBild: Imago/Hohlfeld

Kochrezepte erzählen ist eine größere Kunst als Witze erzählen. Die Pointe muss sitzen, obwohl sie nicht lustig ist. Hier im Lager beginnt der Witz schon mit: MAN NEHME. Dass man nichts hat, das ist die Pointe. Aber die spricht niemand aus. Kochrezepte sind die Witze des Hungerengels.

Hungerengel und Atemschaukel

Die Geschichte ist in einer Sprache geschrieben, die so schön ist, dass es weh tut.  Jeder Leser kommt bei der Lektüre an seine Grenzen. Dabei haben die Worte und Bilder Herta Müllers etwas Altmodisches, Überbordendes, als kämen sie aus einer anderen, längst verschwundenen Welt.

Der Hungerengel zum Beispiel ist eine Art Geist, der immer da ist. Jeder im Lager hat einen Hungerengel, der über den Schlaf der Männer und Frauen wacht, der sie aufs Feld begleitet, wo sie bis zur Erschöpfung schuften – und manchmal auch sterben.

Oder die titelgebende Atemschaukel, die als Begriff nie richtig erklärt wird:
Ich halte die Balance, die Herzschaufel wird zur Schaukel in meiner Hand, wie die Atemschaukel in der Brust.

Die Unterdrückung der Rumäniendeutschen unter Ceauşescu

Herta Müller war selbst Rumäniendeutsche und wurde unter dem kommunistischen Ceauşescu-Regime bespitzelt, drangsaliert, verhört und zensiert. 1987 emigrierte sie in die Bundesrepublik – und fühlte sich weiter vom rumänischen Geheimdienst Securitate bedroht. Das Leben unter der Diktatur und welche Deformationen daraus entstehen, bleibt bis heute das Leitmotiv in ihren literarischen Arbeiten.

Erst mit "Atemschaukel" löste sich Herta Müller von ihrer eigenen Biografie. Ein Meisterwerk, jubelten weite Teile des Feuilletons. Aber es gab auch kritische Stimmen, die der Autorin eine Ästhetisierung des Schreckens vorwarfen.

Nobelpreis für Literatur 2009 - Herta Müller
Im Dezember 2009 bekam Herta Müller in Stockholm den Literaturnobelpreis überreichtBild: Imago/Kamerapress

Literaturnobelpreis

Im Jahr des Erscheinens von "Atemschaukel", 2009,  erhielt Herta Müller den Nobelpreis für Literatur. In ihrer Begründung schrieb die Jury, dass Müller "mittels der Verdichtung der Poesie und der Sachlichkeit der Prosa Landschaften der Heimatlosigkeit" zeichne. Und genau das entsteht beim Leser ihrer Romane, Erzählungen, Essays: das Gefühl einer Heimatlosigkeit, gegen die es keine Hoffnung gibt.

 

Herta Müller: "Atemschaukel" (2009), Hanser Verlag

Herta Müller (geboren 1953 In Niƫchidorf, Volksrepublik Rumänien) gehörte der deutschen Minderheit in Rumänien an und wuchs im Banat auf. 1987 siedelte in die Bundesrepublik über. Die meisten ihrer Werke – Gedichte, Romane, Essays -  handeln von den Folgen der kommunistischen Diktatur. Zu den bekanntesten Büchern zählen neben "Atemschaukel" "Der Fuchs war damals schon der Jäger" und "Herztier". 2009 erhielt Herta Müller den Literaturnobelpreis.