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Politik

Hinter "schwedischen Gardinen" in Minsk

Tatyana Nevedomskaya
16. September 2021

Zwei Belarussen, Vater und Sohn, verstecken sich seit einem Jahr in der schwedischen Botschaft in Minsk - aus Furcht vor den belarussischen Behörden. Dort fühlen sie sich als Gast und Gefangene zugleich.

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Weißrussland Minsk | Vitaliy und Vladislav Kuznetschik
Witalij und Wladislaw Kusnetschik (Archivfoto)Bild: Privat

"Hätten wir gewusst, dass dies so lange dauern wird, hätten wir uns eine andere Option überlegt, aber man weiß ja nicht, ob die besser gewesen wäre", sagt Wladislaw Kusnetschik. Seit einem Jahr versteckt er sich mit seinem Vater Witalij in der schwedischen Botschaft in Minsk vor der Verfolgung durch die belarussischen Behörden.

Die Männer waren am 11. September 2020 zur diplomatischen Vertretung gekommen und wollten dort politisches Asyl beantragen. An der Sprechanlage wurde ihnen aber gesagt, man könne ihnen nicht helfen. Daraufhin kletterten beide Männer über den Zaun und weigerten sich, das Botschaftsgelände wieder zu verlassen.

Was droht den Kusnetschiks?

Vor gut einem Jahr wurden im belarussischen Witebsk, wie auch in anderen Städten des Landes, Demonstranten festgenommen und misshandelt, darunter auch Witalij Kusnetschik. Doch Wladislaw schildert, dass er seinen Vater zusammen mit anderen Protestteilnehmern den schlagenden Polizisten noch habe entreißen können. Diese hätten Witalij zuvor Pfeffergas in die Augen gesprüht. Den Hergang könnten viele Menschen bezeugen, so Wladislaw.

Bilder von der gewaltsamen Auflösung der Protestaktion gegen die gefälschte Präsidentenwahl, bei der Machthaber Alexander Lukaschenko zum Sieger erklärt wurde, waren damals durch die Medien gegangen. Später wurde gegen die Kusnetschiks ein Strafverfahren wegen Anwendung oder Androhung von Gewalt gegen Polizisten eingeleitet.

Belarus Minsk Opposition Protest Polizei
2020 kam es in ganz Belarus zur Konfrontation zwischen Polizei und Gegnern des Lukaschenko-RegimesBild: Vasily Fedosenko/REUTERS

Den Akten der Strafsache zufolge sollen Witalij und Wladislaw die "rechtmäßige Arbeit der Organe für innere Angelegenheiten behindert, Gewalt gegen Angehörige der Organe für innere Angelegenheiten angewendet und diesen Körperverletzungen, Schläge und körperliche Schmerzen zugefügt haben".

"Wir haben keine Informationen darüber, wie die Ermittler Körperverletzungen, Schläge und körperliche Schmerzen bei Beamten festgestellt haben, die von den Behörden namentlich nicht aufgeführt werden", sagt der Anwalt der beiden Männer, Wadim Drosdow. Seine Mandanten würden sich bereits seit einem Jahr in der schwedischen Botschaft aufhalten, aus Angst, im Falle einer Festnahme durch die belarussischen Behörden gefoltert zu werden.

Schwedische Medien berichten unter Berufung auf das Außenministerium, die Gesetzgebung des Landes sehe kein Verfahren vor, mit dem politisches Asyl in einer diplomatischen Auslandsvertretung erlangt werden könne. Stockholm stellte klar, solchen Anträgen könne nicht stattgegeben werden. Das Außenministerium erklärte lediglich, es stehe mit den Kusnetschiks im ständigen Gespräch.

Fall liegt UN-Ausschuss gegen Folter vor

An die belarussischen Behörden kann die schwedische Botschaft die Kusnetschiks nicht übergeben. Denn wie Wadim Drosdow erklärt, hatten sich Witalij und Wladislaw bereits im September 2020 mit einer Beschwerde gegen Schweden an den UN-Ausschuss gegen Folter (CAT) gewandt. Darin erklärten sie, sollten sie aufgrund von Handlungen oder Untätigkeit der schwedischen Behörden von den belarussischen festgenommen werden, dann würde ihnen seitens des Lukaschenko-Regimes Folter drohen.

 Die Botschaft von Schweden in Minsk, Weißrussland,
Die Kusnetschiks leben seit einem Jahr in der schwedischen Botschaft in MinskBild: Tatyana Newedomskaya/DW

Am 1. Oktober 2020 gab der Ausschuss dem Antrag der Kusnetschiks auf vorübergehende Maßnahmen statt und verpflichtete Schweden, alles zu unterlassen, was zu einer Festnahme der Kusnetschiks durch die belarussischen Behörden führen könnte. Der UN-Ausschuss forderte Schweden zudem auf, den beiden Männern Immunität zuzusichern.

"Die vorübergehenden Maßnahmen verpflichten die schwedische Regierung nicht, die Kusnetschiks als Flüchtlinge anzuerkennen oder ihnen eine Aufenthaltserlaubnis zu gewähren, obwohl sie dies tun könnte", sagt der Anwalt Drosdow. Ihm zufolge wird der Ausschuss im November 2021 prüfen, ob die Beschwerde der Kusnetschiks gegen Schweden zugelassen wird. Solange können Witalij und Wladislaw auf dem Gelände der Botschaft bleiben.

Was macht die schwedische Botschaft?

In der schwedischen Botschaft haben Witalij und Wladislaw mittlerweile ein eigenes Zimmer mit Betten, Dusche, Toilette, Waschmaschine, Kochmöglichkeit, Kühlschrank und Geschirr. Um sich fit zu halten, haben sie verschiedene Hanteln bekommen. Früher wurden ihnen Fertiggerichte gebracht, doch jetzt kochen die Kusnetschiks selbst. "Das ist ein großes Plus, so vergeht die Zeit schneller. Die notwendigen Lebensmittel werden für uns eingekauft. Jederzeit können wir an die frische Luft gehen, wir haben alles, was man zum Leben braucht. Das Verhältnis zu den Mitarbeitern der Botschaft ist gut. Einen Fernseher oder Computer haben wir zwar nicht, aber immerhin ein Smartphone", so Wladislaw. Er bestätigt, dass die Frage einer medizinischen Untersuchung derzeit geprüft werde. In früheren Medienberichten hatte es geheißen, die Männer würden ärztliche Hilfe benötigen.

Die Kusnetschiks haben ihre Familie nun schon seit einem Jahr nicht mehr gesehen. Besuche in der Botschaft sind nicht erlaubt; die Kommunikation mit den Angehörigen erfolgt per Videoschalte. "Ich mach mir nicht so sehr Sorgen um uns", erzählt Wladislaw, "als vielmehr um die Familie, die es natürlich finanziell schwer hat, weil ich kein Geld mehr verdiene. Innerhalb eines Jahres waren meine Mutter und meine Ehefrau am Coronavirus erkrankt, aber sie halten durch. Die Kinder vermissen uns und fragen, wann wir nach Hause kommen. Die ideale Lösung für uns wäre, in unserem Land zu leben, keine Angst mehr vor der Zukunft zu haben. Doch dies", sagt Wladislaw Kusnetschik, "wird erst dann möglich sein, wenn neue faire Wahlen stattfinden und die Gesetze respektiert werden."

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk