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HIV in Russland: Die Zahl der Kranken steigt

Julia Wischnewezkaja / Roman Goncharenko1. Dezember 2014

Die Zahl der HIV-Infizierten in Russland steigt. Die Gefahr der Erkrankung wird unterschätzt, viele sagen sogar: Aids? Gibt es nicht! Julia Wischnewezkaja und Roman Goncharenko berichten aus Moskau.

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Kiril Barski aus Moskau ist selbst HIV-positiv (Foto: DW)
Kiril Barski ist HIV-positiv - und setzt sich als Freiwilliger für andere Patienten einBild: DW/Y. Vishnevetskaya

"Wir waren seit fünf Monaten zusammen und haben irgendwann aufgehört, Kondome zu benutzen, nach dem Motto: Wir vertrauen uns doch", erinnert sich Kiril Barski an seine Ansteckung mit HIV. "Ein halbes Jahr später begann bei mir die akute Phase in ihrer klassischen Form." Der damals 18-jährige Moskauer erkrankte zuerst an einer Angina, die mehrere Wochen andauerte. Kiril bekam einen Ausschlag am ganzen Körper, die Lymphknoten entzündeten sich. Er nahm sechs Kilo ab und schwitzte so sehr, dass zwei- bis dreimal pro Nacht die Bettlaken gewechselt werden mussten. "Meine Ärztin verstand nicht, was los war", erzählt er. "Es ging ihr einfach nicht in den Kopf, dass ein so niedlich aussehender Junge ein Sexleben führen kann - und schon gar nicht ein homosexuelles."

Kostenlose Medikamente, bevorzugte Pflege

Dann die Diagnose: HIV-positiv. Drei Monate habe er gebraucht, um damit klarzukommen. "Es war wie in einem Lehrbuch: Ablehnung, Wut, der Versuch, mit dem Schicksal zu verhandeln, Depression, Akzeptanz", zählt der junge Mann ruhig auf, als würde er nicht über sich selbst, sondern über jemand anderen sprechen. Er arbeitet als Freiwilliger im sozialen Zentrum "Schagi" (Schritte), das Menschen mit ähnlichen Schicksalen hilft. "In unsere Hilfegruppen kommen jede Woche fünf bis sechs Neue", sagt Kiril. "In Russland gibt es eine Epidemie."

Vier Jahre nach der Ansteckung geht es ihm deutlich besser. Er sieht gut aus. Der Grund: Kiril hat rechtzeitig mit einer antiretroviralen Therapie begonnen, einer medikamentösen Behandlungsstrategie für HIV-Patienten, durch die die Krankheitsprogression vermindert werden soll. "Viele in Russland glauben irgendwie, dass HIV ein Todesurteil bedeutet, dass die antiretroviralen Mittel sehr teuer sind und man sie nur in den USA kaufen kann", sagt Kiril. Seine Erfahrung war eine andere: "Alle Medikamente gibt es kostenlos, in Kliniken muss man nicht Schlange stehen."

Symbolbild AIDS: eine rote Schleife auf schwarzem Hintergrund (Foto: dpa)
Nach UN-Angaben hat sich die Zahl der HIV-Infektionen in Russland im vergangenen Jahr fast verdoppeltBild: picture-alliance/dpa

60.000 Neuinfizierte pro Jahr

Trotzdem steigt die Zahl der HIV-Infizierten in Russland. Neue Statistiken, die jährlich zum Welt-AIDS-Tag am 1. Dezember veröffentlich werden, deuten jedes Jahr auf eine steigende Tendenz. "Seit 1987 sind in Russland 860.000 Virusträger registriert worden", sagt Igor Ptschelin, Vorsitzender der Gesamtrussischen Vereinigung von HIV-Kranken. "Jedes Jahr kommen rund 60.000 neue Fälle hinzu." Nach UN-Angaben hat sich die Zahl der HIV-Infektionen in Russland im vergangenen Jahrzehnt nahezu verdoppelt. Ptschelin sagt, dass insgesamt rund 130.000 Russen an AIDS gestorben sind.

Im Vergleich zu den 1990er Jahren habe sich die Behandlung von HIV-Patienten deutlich verbessert, meint Kiril Barski. "Das größte Problem ist es, Menschen zu motivieren, ins nächstgelegene AIDS-Zentrum zu gehen", so der Freiwillige. "Manche tun es aus Angst nicht, die anderen wohnen zu abgelegen."

Misstrauen gegenüber der westlichen Pharmaindustrie

Erfolgten früher die meisten Infektionen mit dem HI-Virus durch verunreinigte Spritzen, würden sich jetzt die meisten der Betroffenen beim Geschlechtsverkehr mit dem Virus infizieren, sagt Igor Ptschelin. In den Metropolen Moskau und Sankt Petersburg betreffe das mehr als die Hälfte der Fälle. Gründe seien eine unzureichende Vorbeugung und mangelnde Aufklärung durch staatliche Behörden. "Man muss gezielt mit Risikogruppen arbeiten", sagt der Experte.

Ein Junkie, der sich Drogen spritzt
Zu den Risikogruppen gehören DrogenabhängigeBild: picture alliance/JOKER

Doch zunächst müsse der Staat die Existenz von Risikogruppen erst einmal zugeben, sagt Kiril Barski. Der Staat tue so, als gäbe es in Russland beispielsweise keine Drogenabhängigen oder Prostituierten.

Ein zusätzliches Problem seien diejenigen, die an Verschwörungstheorien glauben würden, meint Ptschelin. Das sind Leute, die AIDS anzweifeln. "Sie glauben, dass AIDS von Pharmakonzernen erfunden wurde und HIV in Wahrheit ungefährlich ist", sagt er. Man müsse nur im russischen Internet nach den Wortkombination "Es gibt kein AIDS" suchen, dann werde man schnell Dutzende pseudowissenschaftliche Seiten dazu finden. Solche Ansichten seien unter anderem der Grund, warum sich immer mehr HIV-positive Frauen in Russland während der Schwangerschaft keiner antiretroviralen Therapie unterzögen. Deshalb kämen HIV-infizierte Kinder zur Welt.