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Hunger im Lande Gandhis

20. November 2011

Indien ist Nuklearmacht, die größte Demokratie der Welt und sieht sich selbst gerne als Supermacht von morgen. Die oft verdrängte Wahrheit: In Indien lebt die Hälfte aller unterernährten Kinder weltweit.

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Ein Mönch verteilt Almosen an Arme (Foto: AP)
Traurige Realität im Wirtschaftswunderland Indien: HungerBild: AP

Die Geschichte eines kleinen Mädchens rührte die Leser der "Hindustan Times" zu Tränen. Die Dreijährige mit den großen dunklen Augen lebt mit ihrer Familie in einem Slum in Mumbai. Sie wiegt noch nicht einmal zehn Kilogramm und ist viel zu klein für ihr Alter. Der Vater arbeitet als Elektriker, die Mutter als Hausangestellte. Zusammen verdienen beide etwa 8000 Rupien im Monat: das sind umgerechnet etwa 140 Euro.

Damit gilt die Familie nicht als arm: Arm ist laut der indischen Regierung, wer nur 32 Rupien am Tag, also kaum 60 Cent in der Tasche hat. Und nur diese Menschen können auch Lebensmittel zu verbilligten Preisen kaufen. Doch die Mieten in Mumbai sind exorbitant hoch, Wohnraum in der glitzernden Finanzmetropole ist seit jeher knapp. "Wenn sie Hunger hat, dann isst meine Tochter auch schon mal Erde", erzählt Familienvater Santosh Ramdas Doiphode verzweifelt.

Dieses Schicksal steht stellvertretend für die etwa 250 Millionen Menschen in Indien, die Hunger leiden. In manchen Bundesstaaten wie in Jharkhand werden hungernden Kindern in einem grausamen Ritual sogar die Bäuche mit heißen Stöcken verbrannt, um den Hunger für einige Tage zu überdecken.

Düstere Zukunft

Zwei unterernährte, weinende Kinder (Foto: AP)
Oxfam: Hunger tötet in Indien rund 2000 Kinder pro TagBild: AP

Die Hilfsorganisation Oxfam nennt schockierende Zahlen: Demnach sterben in Indien jeden Tag 2000 Kinder an Hunger und seinen Folgen. Laut einer Studie der medizinischen Fachzeitschrift Lancet ist das Infektionsrisiko in Indien pro Kopf 15 mal so hoch wie in Großbritannien. Denn die Immunabwehr eines durch Hunger geschwächten Menschen ist empfindlich gestört. Die Hitze, fehlende Hygiene und verschmutztes Wasser fördern die Ausbreitung von Infektionskrankheiten zusätzlich.

"Die Situation verschlimmert sich von Tag zu Tag", warnt die indische Menschenrechtsaktivistin Vandana Shiva, die 1993 für ihr Engagement mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Sie zeichnet eine düstere Zukunft: "Die Konsequenzen werden verheerend sein, wenn nicht schnell etwas getan wird. Politische Instabilität, eventuell sogar eine undemokratische politische Führung. Die Frustration in der Gesellschaft sehen wir jetzt schon im ganzen Land." Demonstrationen gegen eine vielerorts korrupte Führung und Streikaufrufe seien Ausdruck dieser Frustration. "Jeder hart arbeitende, ehrliche Mensch sieht sich inzwischen seiner Zukunft beraubt. Das Land wird kollabieren und wir können bald nichts mehr tun", so Shiva.

Gründe für Krise

Probe für Militärparade (Foto: AP)
Regionalmachtanspruch bei hungernder BevölkerungBild: AP

Dabei zählt das amerikanische Magazin Forbes in Indien derzeit mehr als fünfzig Milliardäre. Selbstbewusst fordert die Regionalmacht Indien einen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Seit Jahren wächst die Wirtschaft mit durchschnittlich acht Prozent. Der Westen umwirbt das Land. Die Hungerkrise im Land der 1,2 Milliarden passt nicht ins Bild. Sie wird gerne verschwiegen oder als Klischee abgetan, denn sie könnte dem Image des aufstrebenden Landes schaden. Experten wie Devinder Sharma, einer der führenden Autoren zu Themen wie Nahrungsmittelsicherheit und Agrarreformen in Indien, betonen, die Hungerkrise sei in Wahrheit eine Folge des Wirtschaftsbooms.

Denn der Boom hat nicht ganz Indien erfasst, sondern nur einige Sektoren wie zum Beispiel die IT- und Telekommunikationsindustrie. Doch noch immer leben in Indien etwa zwei Drittel der Menschen von der Landwirtschaft. Hier wird die Schere zwischen Arm und Reich immer größer; die Inflation frisst die geringen Erträge. Gerade in den dörflichen Regionen wächst die Bevölkerung schnell, mangelt es an Bildungschancen und sind die Ressourcen ungleich verteilt. Die alarmierende Zahl von Selbstmorden von Bauern, die durch zu heftige oder ausbleibende Monsunregenfälle in die Schuldenkrise gerieten, zeugt auf bedrückende Weise von diesem Teufelskreis.

Erfolg nur durch kombinierten Ansatz

"Gerade weil das Problem so komplex ist, müssen auch die Lösungsansätze vielfältig sein", fordert Sharma. Getreide, das eigentlich ausreichend in Indien vorhanden ist, müsse die Bedürftigen auch erreichen. Der in Indien noch immer weit verbreiteten Korruption auch im Agrarsektor müsse Einhalt geboten werden, damit Gesetze zum Schutz der Bedürftigen nicht nur auf dem Papier bestünden. "Wir müssen auch schauen, wie wir durch Agrarreformen den Landwirtschaftssektor weiter nach vorne bringen können und die Verteilung von Ressourcen besser organisieren können", so Sharma weiter.

Kinder lernen auf einem Berg aus Müll sitzend (Foto: AP)
Der indische Wirtschaftsboom geht an vielen vorbeiBild: AP

Es war der Traum von Mahatma Gandhi, dem Vater der indischen Unabhängigkeit, dass alle Menschen in Indien, egal welcher Herkunft sie sind, in der Lage sein sollten, sich selbst zu versorgen. Heute scheint Indien von diesem Ziel weiter entfernt denn je. Zwar hat noch jede Regierung versprochen, sich des Problems anzunehmen. Und es mangelt auch nicht an guten Ideen wie Aufklärungskampagnen, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für ungelernte Arbeiter oder Getreidebanken auf dem Land. Was fehlt ist die Erfüllung der Versprechen und die Umsetzung der Ideen in die Praxis. Devinder Sharma hat inzwischen resigniert. "Wenn wir Experten sagen, eine Situation ist alarmierend, wie es nun einmal die Hungerkrise in Indien ist, hört schon keiner mehr zu. Indien wird in den nächsten fünf Jahren zu den Ländern gehören, die einen Großteil ihrer Lebensmittel importieren müssen. Das sollte uns zu denken geben."

Autorin: Priya Esselborn
Redaktion: Matthias von Hein