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"Verzweiflung von jungen Männern ist in Deutschland groß"

Sertan Sanderson27. Juli 2016

Jugendforscher Klaus Hurrelmann glaubt, dass Amoktaten verhindert werden könnten. Mutmaßliche Amokläufer würden schon vor der Tat viele Spuren hinterlassen, erklärte er im DW-Interview. Sie müssten nur erkannt werden.

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Nach Schießerei am Olympia Einkaufszentrum in München
Bild: DW/F. Taube

Bei der Durchsuchung des Zimmers des Münchner Attentäters fand die Polizei das Sachbuch "Amok im Kopf", das sich mit Massenmorden an US-amerikanischen Schulen befasst. Der Soziologe und Jugendforscher Professor Klaus Hurrelmann lehrt an der Hertie School of Governance in Berlin und ist der Verfasser des Vorworts der deutschsprachigen Ausgabe. Er meint, dass das vom US-Psychologen Peter Langman verfasste Buch dem Mörder bei den Vorbereitungen auf seinen Amoklauf möglicherweise sogar geholfen haben könnte. Hurrelmann hat sich jahrelang mit Themen wie Gruppenzwang und psychischen Störungen bei Jugendlichen befasst und mehrere Umfragen unter deutschen Schülern durchgeführt. Mit seiner Forschung will er dazu beitragen, künftige Amoktaten vorzubeugen.

Deutsche Welle: Wie fühlen Sie sich dabei, dass der Täter in München das Buch gelesen hat, an dem Sie mitgearbeitet haben?

Klaus Hurrelmann: Es ist schon etwas beunruhigend, zu erfahren, dass ein wissenschaftlich ausgelegtes Buch bei einem Täter gefunden wurde und er das möglicherweise noch für sein eigene Zwecke genutzt hat. Eigentlich sollte das Buch nur ein Fachpublikum ansprechen. Es kann schon sein, dass der Täter in München in dem einen oder anderen Beispiel in dem Buch sozusagen Leidensgenossen gesehen oder sich daran ein Vorbild genommen hat. In dem Buch geht es schließlich um eine ganz genaue Analyse von jungen Männern, die bei so genannten "School Shootings" teilgenommen haben.

Der Attentäter von München soll von Massenmördern fasziniert gewesen sein, vor allem von Anders Breivik aus Norwegen. Was steckt dahinter, andere Mörder nachahmen oder idealisieren zu wollen?

Peter Langmans zentrale Erkenntnis ist, dass die Täter von "School Shootings" sich sehr genau und auch sehr lange auf ihre Taten vorbereitet haben. In aller Regel haben sie eine breite Dokumentation von ähnlichen Fällen schon angelegt. Lange bevor sie selbst ihre Taten durchführen. Die Täter litten alle auch an sehr starken Persönlichkeitsstörungen. Man muss verdeutlichen, dass diese Taten im Krankheitszustand vorgenommen wurden - zum Bespiel mit einer gespaltenen Persönlichkeit - und somit unter Umständen und mit Kriterien, die keinem gesunden Menschen verständlich werden.

Klaus Hurrelmann
Professor Klaus HurrelmannBild: Hertie School/Peter Himsel

Wie kann Ihre Arbeit, wie kann das Buch dazu beitragen, dass solche Angriffe in Zukunft verhindert werden?

Unsere gesamte Arbeit beschäftigt sich eigentlich mit der Frage: Wie können solche Taten verhindert werden? Und dabei stellt sich heraus, dass der Täter sehr viele Spuren hinterlässt, gerade weil diese Taten alle über einen so langen Zeitraum vorbereitet werden. Die Täter verstecken diese Spuren natürlich, aber diese Art Verheimlichung und das damit verbundene Verhalten ist auch schon eine Spur. Fast alle Täter waren außerdem in medizinisch-psychologischer Behandlung. Das ist auch schon oft ein Indiz. Die Täter sind identifizierbar. Wenn man diese Spuren zusammensetzt, müsste man sie erkennen. Die Spuren liegen aber auch oft im Dunkeln und sind schwer zu interpretieren.

Warum gibt es unter jungen Leuten immer wieder dieses Phänomen, dass sie andere junge Menschen umbringen wollen?

Studien zeigen, dass die Täter voller Hass auf Ihre Umwelt sind. Sie fühlen sich oft von ihrem Umfeld gedemütigt. Sie sehen aber auch, dass andere Gleichaltrige sich nicht in so einer bedrängten Situation fühlen, und dass andere nicht an der Welt zerbrechen. Im Allgemeinen kann man sagen, dass es sich dabei nicht nur um hasserfüllte Taten an Gleichaltrigen handelt, sondern dass von vornherein die Taten in der Regel so aufgebaut und ausgelegt sind, dass auch die Selbsttötung im Ablauf vorgesehen ist.

Buchcover Amok im Kopf
Dieses Buch soll den Münchner Amokläufer möglich inspiriert habenBild: BELTZ

Deutschland war in den letzten Tagen ununterbrochen in den Nachrichten mit verschiedenen Gewaltverbrechen. Aber wie schneidet Deutschland im internationalen Vergleich tatsächlich ab, wenn es um das Thema Amoklauf geht? Wie sicher dürfen wir uns fühlen, dass genug getan wird, um Radikalisierung, Brutalisierung oder diese Vereinsamung von Menschen zu stoppen?

Wenn man die Zahl der Taten auf die Bevölkerung herunter bricht, fällt Deutschland bei Amoktaten schon auf. Wir sind da häufiger mit im Spiel als manch andere Staaten. Das ist für mich ein Signal, dass die Belastung hoch und somit auch die Verzweiflung von jungen Männern sehr groß ist, aber auch, dass die möglichen Folgen dessen nicht frühzeitig erkannt werden. Die Schwere der Verzweiflung wird da oft nicht richtig eingeschätzt. Da ist sicher noch sehr Vieles zu tun, obwohl ich sagen muss, dass wir in letzten Jahren vor allem im Schulbereich sehr viel getan haben. Schulen sind dadurch sensibilisiert worden. Die Tat in München fand allerdings nicht an einer Schule statt, was auch zeigt, dass wir in anderen Bereichen noch Arbeit leisten müssen.

Was führt dazu, dass allem Anschein nach solche Taten heutzutage häufiger stattfinden?

Wie in Langmans Buch auch beschrieben wird, gibt es da hauptsächlich drei Faktoren, auf die man achten muss. Zum einen geht es um eine kaputte oder gestörte Persönlichkeit. Zum anderen kommt da die Umwelt hinzu, die den Täter nicht aufnimmt und lieber abstößt. Drittens geht es um das Medium, in das die ersten beiden Faktoren gelenkt werden, konkret also um den Zugang zu Waffen. In den USA ist der Zugang zu Waffen offensichtlich ein viel wichtigeres Thema, wenn man sich allein da mal die Zahl der Waffen pro Anwohner anschaut. Umso alarmierter müssen wir aber dann auch darüber sein, dass man in Deutschland via Internet wohl ohne allzu große Schwierigkeiten ebenso an eine Waffe herankommen kann. Dadurch zeichnet sich vielleicht auch ein neuer Aspekt für solche Verzweiflungstaten in Deutschland ab.

Das Interview führte Sertan Sanderson.