1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Literatur

Ilse Aichinger: "Die größere Hoffnung"

6. Oktober 2018

Kinder, die nicht dazugehören dürfen, die ausgesondert werden – und die noch Schlimmeres erwartet. Ilse Aichingers einziger Roman spielt in der Zeit der Judenverfolgung und des nationalsozialistischen Terrors.

https://p.dw.com/p/33NDg
Ilse Aichinger, Schriftstellerin
Die österreichische Schriftstellerin Ilse Aichinger hat nur einen einzigen Roman geschriebenBild: picture-alliance/K.Schöndor

Das Mädchen Ellen will nach Amerika. Sie sehnt sich nach ihrer Mutter, die ausgereist ist und jetzt dort drüben lebt. Amerika, das ist "die große Hoffnung" für alle, die weg wollen, ehe es zu spät ist.

Ellen braucht für die Ausreise ein Visum. Doch der Konsul, den sie eindringlich darum bittet, reagiert genervt und ratlos. Es ist Krieg, auch Amerika hat dem Land, in dem Ellen lebt, den Krieg erklärt. Ausreisen lässt man sie nicht mehr.

Und so muss Ellen bei der Großmutter bleiben, die zurückgezogen lebt. Ihre Oma gehört zu den "falschen Großeltern", die man als Kind unglücklicherweise haben kann. Und falsche Großeltern zu haben, ist in dieser Zeit gefährlich.

"Die größere Hoffnung" von Ilse Aichinger

Sehnsucht nach Dazugehörigkeit

Ellen hat zwei "falsche Großeltern", andere jüdische Kinder haben vier "falsche Großeltern". Mit denen will erst recht keiner spielen. Aber zu denen möchte Ellen gehören, zu denen, die auf keiner öffentlichen Parkbank sitzen dürfen und die man nicht mehr Karussell fahren lässt. Kinder, die man nicht mehr in die öffentlichen Schulen gehen lässt, in denen all die Kinder lernen, die die "richtigen" Großeltern haben.

Der einzige Spielplatz, auf dem die Kinder zu spielen wagen, ist der Friedhof. Aber auch da müssen sie aufpassen, denn man beobachtet sie. Und den Erwachsenen, die das Kinderspiel beobachten, kann man nicht trauen.

Klima alltäglicher Bedrohung

Zu Beginn von Ilse Aichingers erschütterndem Roman ist Ellen elf Jahre alt, am Ende ist sie fünfzehn. In zehn Kapiteln entfalten sich die Stationen ihres Kinderlebens, bruchstückhaft und bedrückend,. Es ist das Klima der täglichen Bedrohung und der Angst, das ihr und all den anderen Kindern, die sie zu ihren Freunden zählt, den Atem nimmt.

Auswanderung Juden vor Reisebüro 1939
1939: Auswanderungswillige Juden stehen in Berlin vor einem Reisebüro an Bild: picture-alliance/akg-images

Die anderen Kinder tragen bald einen gelben Stern, aufgenäht auf ihre Mäntel und Jacken. Ellen beneidet sie darum. Sie möchte auch so einen Stern, denn sie will ja dazugehören. Was dieser Stern bedeutet, wissen sie nicht. Eines der Kinder verrät ihr, was ein anderes gesagt hat und keiner hören will: "Bibi hat gesagt: Der Stern bedeutet den Tod!"

Einmal, da schrillt die Glocke an der Tür, eines der Kinder öffnet ängstlich. Doch es ist nur der freundliche Herr von drüben, der versprochen hat, ihnen zu helfen. "Fürchtet euch nicht!", sagt er. Dann fügt er verschwörerisch hinzu: "Es ist alles abgeblasen. Die Deportationen nach Polen sind eingestellt."

Der Mann bleibt und spielt mit ihnen. "Er vergaß, dass er ein Häscher war, er vergaß die Geheime Polizei und den Befehl, diese Kinder solange aufzuhalten, bis man sie holen kam. Keines von ihnen durfte mehr die Wohnung verlassen."

Meilenstein der Nachkriegsliteratur

Ilse Aichingers Roman "Die größere Hoffnung" ist gespenstisch, entstanden im Nachkriegsjahr 1947. Die österreichische Autorin war 26 Jahre, als sie das Buch schrieb, gelesen haben es damals nur wenige. So suggestiv über die Judenverfolgung und – angedeutet – über den Holocaust zu schreiben, war in den frühen Nachkriegsjahren ein Tabubruch. Lesen wollte man stattdessen lieber von den leidvollen Erfahrungen der heimkehrenden deutschen Soldaten.

Der Schreibstil Aichingers ist nicht leicht zugänglich. Vieles bleibt dunkel, vage, rätselhaft. Deutlich spürbar ist der Einfluss von Franz Kafka. Wie bei dem Prager Autor verschmelzen bei ihr Imagination und Wirklichkeit, mal auf surreale, mal auf expressionistische Weise. Die Nacht und die Verfolgung treten in personifizierter Form auf, wie in einem Traumspiel: Angstphantasien des hypersensiblen Mädchens Ellen.

Die Schriftstellerin Aichinger schrieb aus eigenen Erfahrungen, die sie im Wien des nationalsozialistischen Regimes als Kind gemacht hatte. Wie ihre literarische Figur Ellen war auch sie nach der Definition der Nazis "Halbjüdin", die Eltern ihrer Mutter waren beide jüdisch, die des Vaters nicht.

Schriftstellerin Ilse Aichinger gestorben | Schriftstellerin Ilse Aichinger gestorben
Ilse Aichinger mit Heinrich Böll (l.) und Günter Eich bei der Tagung der "Gruppe 47" im Jahr 1952Bild: picture-alliance/dpa

Verborgene Sprachbilder

Der Leser muss sich vieles in Aichingers Roman selbst erschließen, auch den Zeitraum, in dem die Geschichte spielt. Es sind die Jahre zwischen 1941 und 1945. Am Ende kommen "fremde Soldaten" in die Stadt – Soldaten der russischen Roten Armee: "Über den umkämpften Brücken stand der Morgenstern." Drei Jahre nach Erscheinen ihres Romans wird Ilse Aichinger erstmals als Schriftstellerin in die "Gruppe 47" eingeladen. Ihre Kollegen nennen sie "Fräulein Kafka".

1959 hat Aichinger diesen Meilenstein der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur noch einmal radikal überarbeitet. Es ging ihr darum, die Erzählung sprachlich zu verknappen und dramaturgisch mehr zu verdichten. Nur in dieser Textfassung ist der Roman heute noch erhältlich. Die ursprüngliche Fassung ist in Literaturarchiven zu finden.

 

Ilse Aichinger: "Die größere Hoffnung". Der Roman erschien zunächst 1948 in Amsterdam im Bermann-Fischer-Verlag. Heute ist er nur in der 1960 überarbeiteten Fassung verlegt, erschienen im Fischer Verlag.

Ilse Aichinger wurde 1921 mit ihrer Zwillingsschwester Helga in Wien geboren. Sie überlebte den Krieg gemeinsam mit ihrer Mutter, die Großmutter und die jüngeren Geschwister der Mutter wurden 1942 deportiert und ermordet. Nach Kriegsende war sie Lektorin des S. Fischer Verlags und arbeitete an der Hochschule für Gestaltung in Ulm. 1953 heiratete sie den Lyriker und Hörspielautor Günter Eich, mit dem sie zwei Kinder bekam. Ilse Aichinger starb 2016 in Wien. "Die größere Hoffnung" blieb ihr einziger Roman. Für ihre Erzählungen, Lyrik und Hörspiele erhielt sie Dutzende Preise, lehnte aber auch Auszeichnungen wie den Verdienstorden der Bundesrepublik ab.