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"In den USA radikalisieren sich Einzeltäter"

Astrid Prange13. Juni 2016

Sind individuelle Terroranschläge ein amerikanisches Phänomen? US-Terrorexperte David H. Schanzer erklärt im DW-Gespräch, warum in den USA radikale Einzeltäter und nicht Mitglieder von Terrorgruppen Anschläge verüben.

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USA Dallas Symbolbild Trauer an Attentat (Foto: Getty Images/AFP/L. Buckman)
Bild: Getty Images/AFP/L. Buckman

Deutsche Welle: Steht das Massaker von Orlando für eine neue, individuelle Form von Terroranschlägen?

David H. Schanzer: Nein. In den USA radikalisieren sich Einzeltäter. Sie erhalten keine Instruktionen, sie stehen nicht mit einer Terrorgruppe in Verbindung, aber sie lassen sich von diesen anregen und entscheiden sich dann, auf eigene Faust Gewalt anzuwenden. Dafür gibt es mehrere Beispiele – so tötete ein Angehöriger der US-Armee bei einer Massenschießerei auf der US-Militärbasis “Ford Hood” am 5. November 2009 13 Menschen.

Sind diese Anschläge ein amerikanisches Phänomen?

In den USA liegen die Dinge anders als im Nahen Osten oder in Europa. Es gibt hier keine terroristische Infrastruktur mit einer großen Anzahl von Leuten in den Städten, mit denen potenzielle Attentäter eine Zelle bilden und Anschläge planen könnten. Außerdem sind die Sicherheitsbehörden stark und arbeiten so effektiv, dass sie eine größere Terrorgruppe vermutlich wegen deren internen Kommunikation aufspüren würden. Deswegen finden diese individuellen Terroranschläge in den USA und nicht anderswo statt.

Wenn diese Angriffe nicht neu sind, seit wann gibt es sie dann in dieser Form?

Wir beschäftigen uns mit diesem Thema seit mindestens einem Jahrzehnt. Bei den Bombenangriffen während des Boston Marathons im April 2013 haben die beiden Täter auch auf eigene Faust gehandelt, sie haben keine Anweisungen von einer Terrorgruppe bekommen. Dies trifft auch auf das "Bernadino Shooting" zu (Anmerk. Bei dem Anschlag in San Bernardino in Kalifornien am 2. Dezember 2015 töteten zwei Attentäter bei einer Weihnachtsfeier für Menschen mit Behinderung 14 Personen). Seit 2010 wurden rund 270 Personen festgenommen, kaum einer von ihnen hatte Verbindungen zum Terrorismus. Es waren fast alles radikalisierte Einzeltäter, die mit ihrem Leben unzufrieden waren und sich an einer Ideologie festgeklammert haben. Die meisten konnten ihre geplanten Anschläge nicht ausüben, weil sie vorher festgenommen wurden. Aber die Sicherheitsbehörden können nicht perfekt sein, dieser Fall ist durch ihr Raster gegangen.

David H. Schanzer Professor an der Sanford School of Public Policy
US-Terrorexperte David Schanzer lehrt an der Sandford School of Public PolicyBild: Privat

Könnte eine Verschärfung der Waffengesetze dazu beitragen, diese individuellen Attentate zu verringern?

Waffenkontrolle ist in den USA ein sehr kontroverses Thema. Viele sagen, wenn der Verkauf von Waffen besser kontrolliert würde, könnten wir terroristischen Anschlägen vorbeugen - an diese Argumentation glaube ich nicht. Klar ist jedoch, dass der Attentäter in zwei Fällen vom FBI untersucht wurde. Also stand er unter Verdacht. Als er die Waffen gekauft hat, hätte dies die Sicherheitsbehörden alarmieren müssen, der FBI hätte ihn ein zweites Mal untersuchen müssen. Wenn sie gesehen hätten, dass er bereits zuvor Verbindungen zum Terrorismus hatte, wäre die Tatsache, dass er eine Waffe erworben hat, ein klares Zeichen, dass er eine neue Straftat plant.

Was ist Ihre Erklärung dafür, dass es in den USA trotz einer solchen Vorgeschichte möglich ist, eine Waffe zu erwerben?

Nach US-Recht hat jedermann das Recht eine Waffe zu erwerben, solange er nicht rechtskräftig verurteilt worden ist. Weil der Attentäter zuvor keine Straftat begangen hat, stellte das FBI seine Ermittlungen ein. Es gibt einige Bemühungen im Kongress, die Gesetzeslage zu ändern. Es gibt zum Beispiel eine Flugverbotsliste für potenziell Verdächtige. Viele Leute, die auf dieser Liste stehen, haben keine Straftat begangen. Doch sie stehen unter Verdacht und dürfen kein Flugzeug betreten, und wenn sie es doch tun, dann müssen sie eine zusätzliche Untersuchung über sich ergehen lassen. Ich wäre auf jeden Fall dafür, dass jeder, der genug dafür getan hat, um auf der Flugverbotsliste zu stehen, auch beim Kauf einer Feuerwaffe eine solche extra Untersuchung in Kauf nehmen muss. Ich wäre für eine solche Gesetzesänderung.

In wenigen Wochen beginnen in Brasilien die Olympischen Sommerspiele. Gibt es eine Lektion in Sachen Sicherheit, die sich aus dem Anschlag von Orlando aufdrängt?

Terrorismus steht auf der internationalen Agenda seit den grauenhaften Anschlägen bei den Olympischen 1972 in München. Die internationale Gemeinschaft hat seitdem viel gelernt und ihre Sicherheitsvorkehrungen verbessert. Was mir Sorgen macht, sind die sogenannten weichen Ziele, also Orte wie Klubs oder Strandpromenaden, wo tausende von Menschen zusammenkommen, um zu feiern. Wir sollten diese Gewohnheiten nicht ändern, denn sonst würden wir einen Teil unserer Menschlichkeit verlieren. Aber die Sicherheitsbehörden müssen verschärft darüber nachdenken, wie sie die Risiken solcher Veranstaltungen in den Griff bekommen.

Je mehr Rechte und Freiheiten es gibt, desto mehr scheint auch der Widerstand dagegen zu wachsen. Haben wir einen Punkt erreicht, an dem sich immer mehr Menschen an den Freiheiten stören, die die Menschen in der sogenannten westlichen Welt genießen?

Das glaube ich nicht. Es gibt immer eine Minderheit, die Widerstand leistet, doch die Mehrheit hält dagegen und setzt sich durch. Die Minderheit, die diese Rechte nicht akzeptiert, steht letztendlich gesellschaftlich im Abseits. Die Frage ist, wie wir diese Leute dazu bringen, ihre Meinungsverschiedenheiten demokratisch und nicht gewalttätig auszutragen. Wir müssen uns damit beschäftigen, wie wir Terrorismus vorbeugen und politische Gewalt verhindern können. Das ist eine sehr große Herausforderung, aber die Gesellschaft muss all ihren Mut und all ihre Ressourcen nutzen, um dieses Problem anzugehen.

David H. Schanzer ist Direktor des Triangle Centers für Terrorismus und Nationale Sicherheit an der Duke Sandorf School of Public Policy University in Durham. Er ist Autor der Studie "Anti-Terror Lessons of Muslim Americans".

Das Gespräch führte Astrid Prange.