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Chinas Volks-Wandel

Das Gespräch führte Sabine Peschel25. Januar 2007

Die chinesische Gesellschaft altert, und es werden immer weniger Mädchen geboren. Der Soziologe Peng Xizhe von der Fudan-Universität in Schanghai erläutert, wie China mit dem demographischen Wandel umgehen will.

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Drei lachende kleine chinesische Kinder, aufgenommen am 12.04.2003 in Peking.
In den ostchinesischen Großstädten sind Kinder rar gewordenBild: picture-alliance/ ZB

DW-WORLD.DE: "Die Natur der Gesellschaft" ist eine der zentralen Fragestellungen der deutschen Soziologie. Was, Professor Peng, ist die "Natur" der chinesischen Gesellschaft?

Peng: Die chinesische Gesellschaft befindet sich in einem rasanten Transformationsprozess. Die Dynamik geht in mehrere Richtungen. Es gibt aktuell einen Rückwärtstrend zu traditionellen Familienformen und -normen. Andererseits geht die Tendenz immer mehr zur 'westlichen' Kernfamilie, zu einer individualisierten Gesellschaft.

China hatte 2005 laut Statistik eine Bevölkerung von 1,307 Milliarden. Diese große Bevölkerung wurde in den vergangenen Jahren immer als ein Problem angesehen. Warum ist das so?

China ist ein riesiges Land mit – absolut betrachtet – ausreichenden Ressourcen. Aber die Pro-Kopf-Ressourcen sind sehr beschränkt. Mit dem Wachstum der Gesellschaft gehen die Ressourcen zur Neige und die Situation der Umwelt verschlechtert sich. Das ist der Hauptgrund für Chinas Versuch, das Bevölkerungswachstum zu kontrollieren.

Wie die deutsche, altert jetzt auch die chinesische Gesellschaft. Ist die Geburtenkontrolle überhaupt noch notwendig?

Die chinesische Regierung befindet sich hier in einem Dilemma. Auf der Makro-Ebene wird die ohnehin riesige Bevölkerung um weitere 200 Millionen wachsen, ehe sich ihre Größe stabilisieren wird...

Wann wird diese Stabilisierung eintreten?

Peng Xizhe
Peng Xizhe

Das hängt von den Annahmen ab, mit denen man die Hochrechnungen vornimmt; ungefähr zwischen 2030 und 2040. Deshalb brauchen wir auf dieser Makro-Ebene immer noch eine Politik zur Kontrolle des Bevölkerungswachstums. Aber auf der Mikro-Ebene ist die chinesische Familie bereits sehr klein geworden. Unser Durchschnitt liegt bei 1,7 Kindern pro Familie, und in städtischen Regionen ist die Zahl noch geringer. In Shanghai zum Beispiel liegt die Geburtenrate nur bei 0,8 und im gesamten städtischen China nur bei knapp über einem Kind pro Familie. Das verursacht eine Menge Probleme bei der Erziehung von Einzelkindern und hinsichtlich der Funktion und der Struktur der Familie in der Zukunft. Auf der Mikro-Ebene haben wir also sehr wenig Spielraum für eine weitere Bevölkerungskontrolle. Das bedeutet ein echtes Dilemma. Auf der Mikro-Ebene wäre es besser für China, eine generelle Zwei-Kinder-Politik zu implementieren

Und wird es eine solche Politik in der Praxis geben?

Ich denke, dass die Bevölkerungspolitik der chinesischen Regierung zumindest für die nächsten Jahre noch unverändert bleiben wird. Das Problem ist jedoch nicht mehr, ob man diese Politik ändern sollte, sondern, wann und wie. Der Gegenstand der Debatte hat sich also schon verändert.

Welche Pläne auf zentraler, regionaler oder lokaler Politikebene gibt es?

Die Organisation und Durchführung der Politik zur Regulierung der Familienplanung ist zwar dezentralisiert, steht aber unter der Führung der Zentralregierung. Die lokalen Ebenen können allenfalls kleine, graduelle Modifizierungen vornehmen. In Schanghai beispielsweise versuchen die Stadtregierung und akademische Kreise schon seit über zehn Jahren, die Politik zu ändern. Die Zentralregierung befürchtet jedoch, dass es einen Dominoeffekt geben könnte. Wenn die Bestimmungen in Schanghai gelockert würden, dann könnten andere Provinzen und Städte folgen. Deshalb verfolgt die Zentralregierung die Linie: Gut, Schanghai hat eine geringe Fertilitätsrate, und die Bevölkerung altert schnell. Aber Schanghai kann das Problem lösen, indem es Migranten – vor allem aus Inland-China – in die Stadt holt.

Welche Rolle spielen die Binnen-Migranten beim demographischen Wandel?

Wanderarbeiter schlafen auf einer Baustelle in Peking
Schöne neue Welt: Auch bald für Wanderarbeiter?Bild: AP

Sie sind normalerweise jung, zwischen 20 und 40. Sie kommen in die Städte und bilden ein fast unbegrenztes Potenzial an Arbeitskraft. Und sie haben ebenfalls die Funktion, den Alterungsprozess zu verlangsamen. Derzeit möchte die Regierung gern ein "harmonisches China" errichten. Deshalb will sie das Einkommen der Migranten-Arbeiter anheben und ihre Arbeits- und Lebensbedingungen verbessern. So sollen die Migranten nach und nach in die lokale Gesellschaft integriert werden. Aber das ist ein langwieriger Prozess, und wir werden noch lange eine gespaltene Gesellschaft haben. Die ländliche Bevölkerung ist von den verschiedenen sozialen Fürsorge- und Versicherungssystemen ausgeschlossen, die es in den Städten gibt. Um die Migranten in die urbane Gesellschaft zu integrieren, müssen noch eine Menge Probleme gelöst werden.

Ist das Problem des demographischen Wandels in China bereits ins allgemeine Bewusstsein vorgedrungen, oder ist es lediglich ein Thema für die Verwaltung?

Die Alterung der Gesellschaft wird weithin diskutiert. Aber noch ist sie lediglich ein Phänomen der Ostküste und der Mega-Städte. In den nächsten zehn Jahren wird die Bevölkerung dieser Regionen rasant altern, da die Baby-Boomer-Generation dann in den Ruhestand tritt. In zehn Jahren ist die Krise da.

Mit welchen politischen Maßnahmen will man den enormen Problemen hinsichtlich der sozialen Absicherung denn vorbeugen?

Das Hauptproblem ist, dass das gegenwärtige Rentensystem lediglich etwa 30 Prozent der städtischen Bevölkerung abdeckt. Für die Mehrheit der ländlichen Bevölkerung existiert überhaupt kein funktionierendes Rentensystem. Nur 40,2 Prozent der Chinesen gelten als Einwohner von Städten. In der Vergangenheit hingen alle Rentensysteme ausschließlich von der Arbeit ab, und zwar von Arbeit in staatlichen oder kollektiven Unternehmen. Jetzt versucht die Regierung, die Basis für die städtischen Rentensysteme stark zu verbreitern und Menschen aus dem privaten oder informellen Sektor mit aufzunehmen. Auch die jungen Migranten, und das könnte das Problem dann sehr kurzfristig lösen.

Sie selbst sagten einmal, "China ist das erste große Land, das alt wird, ehe es reich wird." Glauben Sie wirklich, dass es so kommt?

Ja. Denn im Vergleich mit den entwickelten Ländern, den OECD-Ländern, ist China wirtschaftlich immer noch rückständig. China mag jetzt zwar mit seinem Bruttosozialprodukt an vierter oder fünfter Stelle in der Welt stehen, aber pro Kopf beträgt es kaum mehr als 1000 US -Dollar. In diesem Sinn ist China immer noch ein großes Entwicklungsland. Aber alle Anzeichen beweisen, dass es sich schon in der Periode der gesellschaftlichen Alterung befindet, viel früher als andere großen Entwicklungsländer wie Indien oder Brasilien. China wird also alt, aber nicht reich.

In China fehlen Mädchen. Was tut die Administration, um dem Phänomen der "missing girls" zu begegnen?

Ein alter Mann spielt in einem Pekinger Park Flöte für einen Jungen. Die Idylle trügt, denn es fehlt an Mädchen
Trügerische Generationenidylle: Es fehlt an MädchenBild: AP

Das normale Verhältnis sollte auf 100 Mädchen 105 bis 108 Jungen sein. Aber in China steigt diese Rate seit 1982 von Jahr zu Jahr an. 1990 lag sie - zur Geburt - bei 112, 2000 bei 119, und 2005 dann bei fast 124. Die chinesische Regierung und die Gesellschaft haben die Brisanz der Entwicklung erkannt und versuchen, dem Problem mit Gesetzen, mit Erziehung und Propaganda oder mit Programmen zur gesundheitlichen Bildung besonders für arme Mädchen entgegenzuwirken. Aber trotzdem befinden wir uns jetzt in dieser besonderen Phase der gesellschaftlichen Transformation und der Fertilität. In der chinesischen Gesellschaft werden Söhne noch immer mehr geschätzt als Mädchen. Wenn daher die Schwangerschaft als ein Mädchen identifiziert wird, dann möchten die Eltern manchmal das Kind gern abtreiben und lieber auf einen Sohn warten. Diese vorgeburtliche Selektion durch Abtreibung ist der Hauptgrund für das Missverhältnis.

China wurde in den 1980er und 1990er Jahren wegen seiner Abtreibungspraxis viel kritisiert. Inzwischen haben sich die Vorschriften teilweise geändert. Gibt es immer noch erzwungene Abtreibungen?

Theoretisch hätte es, glaube ich, nie erzwungene Abtreibungen geben dürfen. Theoretisch sollte das Programm von allen Beteiligten freiwillig durchgeführt werden. Aber in China ist die Kluft zwischen der Politik und dem Wunsch der Menschen, Kinder zu bekommen, immer noch vorhanden. Die Behörden oder die für die Familienplanung Verantwortlichen versuchen im Konfliktfall, dann die Frau zur Abtreibung zu überreden.

Geschieht es noch, dass Abtreibung als ein Mittel zur Geburtenkontrolle eingesetzt wird?

Ich fürchte, wir müssen zugeben, dass es noch passiert. Jährlich gibt es in China 16 Millionen Geburten, und bei dieser großen Zahl können wir nicht behaupten, dass es keine erzwungenen Abtreibungen mehr gäbe. Vor allem in den ländlichen Regionen, wo die Perspektiven geringer sind und die Mittel zur Geburtenkontrolle nicht so gut wie in der Stadt, existiert dieses Problem noch. Wenn die Menschen in der Stadt ein Kind außerhalb der zugelassenen Familienplanung haben möchten, dann bezahlen sie eine Strafgebühr und bringen das Kind einfach zur Welt. Auf dem Land ist das verantwortliche Personal nicht immer so gut qualifiziert wie in den Städten. In den Städten werden die Menschenrechte viel mehr respektiert. Aber auf dem Land geschehen Menschenrechtsverletzungen ab und zu noch.

Peng Xizhe ist Direktor des Instituts für Bevölkerungsforschung an der Fudan Universität in Schanghai, wo er z. Zt. auch ein Zentrum zur Erforschung informeller Arbeit aufbaut