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Zensur mit System in Indien

Debarati Guha16. Januar 2016

Architektonische Meisterwerke, große Literaten, Sitar-Musik oder Bollywood: Indiens Kultur ist vielfältig und offen. Doch nur, solange Künstler und Literaten Themen wie Sexualität oder Religion außen vor lassen.

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Symbolbild Protest gegen Vergewaltigungen in Indien. Frauen halten Schilder gegen Missachtung der Frauenrechte hoch (Foto: AP Photo/Saurabh Das)
Bild: picture-alliance/AP Photo/Saurabh Das

Am 16. Dezember 2012 vergewaltigte eine Gruppe junger Männer die 23-jährige Studentin Jyoti Singh Pandey in Delhi auf brutalste Weise. Sie starb kurze Zeit später an ihren Verletzungen. Seitdem ist die Situation der Frauen in Indien ins Blickfeld der breiten Weltöffentlichkeit geraten. Die Debatten über Gewalt gegen Frauen und was man dagegen tun kann sind kontrovers. Eine wirklich fundierte und offene Diskussion über die komplexen sozialen und politischen Faktoren ist in Indien allerdings kaum möglich. Diese Diskussion würde nämlich die beiden großen Tabuthemen der indischen Gesellschaft berühren: Sexualität und Religion.

Die hindu-nationalistischen Kräfte in der Gesellschaft sind stark. Aus Angst, dass sie sich über vermeintlich "blasphemische" Kulturgüter aufregen, betreibt Indien eine restriktive Zensurpolitik. Das Resultat ist ein Minenfeld für den gesamten Kulturbetrieb des Landes. Die längst überfällige gesellschaftliche Diskussion über die beiden Tabuthemen Sexualität und Religion wird somit im Keim erstickt.

Symbolbild - Proteste gegen Vergewaltigungen in Indien. Frau zeigt ihre Handflächen in die Kamera, darauf steht "No rape" (Foto: Noah SEELAM / Getty Images)
Bild: Getty Images/N. Seelam

Gummiparagraph mit Folgen

Indiens Image in der Welt ist eng mit seiner Wirtschaftskraft verknüpft. Zusammen mit den anderen BRICS-Ländern Brasilien, Russland, China und Südafrika zählt das Land zu den aufstrebenden Volkswirtschaften. Die Regierung bezeichnet Indien gern als die größte Demokratie der Welt und verweist dabei auch auf Artikel 19 der Verfassung. Das Gesetz garantiert die Meinungsfreiheit als fundamentales Bürgerrecht einer säkularen Republik. Auf der anderen Seite betreibt Indien eine strenge Zensurpolitik, die auf einen Gummiparagraphen im Strafgesetzbuch aus der britischen Kolonialzeit zurückgeht.

Im Jahre 1927 löste ein Buch über die angebliche sexuelle Freizügigkeit des Propheten Mohammad schwere Unruhen unter der muslimischen Bevölkerung im Punjab aus, bei denen der Herausgeber des Buches ermordet wurde. Vor dem Hintergrund einer möglichen Eskalation des Konflikts zwischen Hindus und Muslimen erließ die britische Kolonialverwaltung eine Verordnung, die bis zum heutigen Tag Anwendung findet: Paragraph 295 a des indischen Strafgesetzbuches. Er besagt, dass jeder, der mit "vorsätzlicher und böswilliger Absicht" die religiösen Gefühle anderer verletzt, mit bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft wird. In den vergangenen 80 Jahren wurde dieser Paragraph unzählige Male angewendet, um Theateraufführungen, Kunstausstellungen und Bücher zu verbieten oder zu zensieren.

Was nicht passt, wird passend gemacht

Portrait Salman Rushdie im Portrait. (Foto: picture-alliance/dpa/A. Dedert)
Der Autor Salman Rushdie bei der Frankfurter Buchmesse 2015Bild: picture-alliance/dpa/A. Dedert

Das international prominenteste Opfer der indischen Zensur war Salman Rushdies Buch "Satanische Verse" im Jahre 1988. Rushdie wurde zudem jahrelang ein Einreisevisum verweigert. Erst kürzlich, im November 2015, gab ein ehemaliger Minister der damaligen indischen Regierung zu, dass die Verbannung von Rushdies Buch aus den indischen Buchläden ein "Fehler" war. Rushdies Antwort auf Twitter fiel sarkastisch aus: "Diese Einsicht hat 27 Jahre gebraucht. Wie viele Jahre braucht es noch, um diesen "Fehler" zu korrigieren?"

Noch weiter zurück liegt der Fall der US-amerikanischen Schriftstellerin Katherine Mayo. In ihrem Buch "The Face of Mother India" von 1936 beschrieb sie aufsehenerregende Fälle von Kinderehen, häuslicher Gewalt und Vergewaltigung und löste einen internationalen Skandal aus. Trotz des Verbots führte unter anderem dieses Buch dazu, dass kurze Zeit später das Mindestheiratsalter in Indien auf 13 Jahre heraufgesetzt wurde.

Das jüngste Beispiel für den Umgang mit Frauenthemen ist das Verbot der herausragenden BBC-Dokumentation "India's Daughter" (2015) von Leslee Udwin, die ein weltweites Medienecho auslöste.

Kritik am Hinduismus findet öffentlich nicht statt

Auch eine offene Diskussion über den modernen Hinduismus wird durch die restriktive Zensur unterbunden. Das führt bei vielen Kulturschaffenden schon im Vorfeld zu Selbstzensur oder treibt sie im Extremfall ins Exil.

Die indische Autorin Arundhati Roy bei einer Ansprache (Foto: Imago/Hindustan Times)
Die Autorin Arundhati Roy gab aus Protest den indischen Nationalpreis zurückBild: Imago/Hindustan Times

Dieses Schicksal traf einen der renommiertesten und international anerkannten indischen Maler des 20. Jahrhunderts, Maqbul Fida Husain. Der "Picasso Indiens", wie er oft von den Medien bezeichnet wurde, hatte in einigen seiner Bilder indische Göttinnen nackt dargestellt. Daraufhin bekam er Todesdrohungen von hinduistischen Extremisten, die ein Preisgeld für denjenigen auslobten, der Husains Hände abschlagen würde. Husain verließ 2006 das Land mit den Worten: "Wer kann mir die Sicherheit meiner Hände garantieren? Ohne meine Hände bin ich nichts." Er starb 2011 in London.

Die indische Essayistin und Booker-Preis-Gewinnerin Arundhati Roy gab im November 2015 aus Protest gegen die zunehmenden religiös motivierten Übergriffe hinduistischer Extremisten gegen Minderheiten den indischen Nationalpreis zurück. "Ganze Bevölkerungsgruppen - Millionen von unberührbaren Dalits, Stammesvölker, Muslime und Christen - müssen in Schrecken leben, nicht wissend, wann und wo die nächste Attacke passiert", schrieb Roy in einem Beitrag für die Zeitung "Indian Express".

Die Hoffnung lebt weiter

Panoramabild des Taj Mahal (Foto: picture-alliance/dpa/David Ebener)
Bild: picture-alliance/David Ebener

Heißt das etwa, dass Indien ein Land der Hoffnungslosigkeit ist, wo es keine Meinungsfreiheit gibt? Nein, es erübrigt sich zu erwähnen, dass Indien eine sehr reiche Kultur aufweist - heute wie in der Vergangenheit. In vielen traditionellen Texten wird die indische Kultur als "Sa Prathama Sanskrati Vishvavara", als erste und größte Kultur der Welt bezeichnet. Zumindest ist sie eine der ältesten der Welt; von den großen epischen Werken wie dem "Ramayana" und dem "Mahabharata" bis zur Erfindung der Ziffer Null. Es gibt architektonische Meisterweke wie das Taj Mahal und daneben eine Unterhaltungsindustrie, die sich mit ihren "Bollywood"-Filmen weltweit einen Namen gemacht hat. Die indische Kultur manifestiert sich vielfältig in Traditionen, Werten, Sprachen und Künsten.

Der indische Bollywood-Star Shah Rukh Khan auf dem Sofa mit einer Frau. Ausschnitt aus dem Film "Wer zuerst kommt, kriegt die Braut" (Foto: picture alliance/Dinodia Photo)
Verkaufsschlager in die Welt: Bollywood-Filme aus IndienBild: picture alliance/Dinodia Photo

Und dann ist da auch die Kultur des Protests, die Unabhängigkeitsbewegung und der Weg, den Gandhi gezeigt hat. All das gibt Anlass zur Hoffnung, dass die Menschen - durch die verschiedenen Ausdrucksformen der Künste - jeder Art der Ungerechtigkeit Widerstand leisten werden, bis Indien wieder aufsteht. Das wird aber nur möglich, wenn alle Tabu-Themen angesprochen werden können, um dann Lösungen zu finden.

Dieser Prozess hat tatsächlich begonnen. Damals - nach der Vergewaltigung und dem Mord - gingen Zehntausende in mehreren Städten des Landes auf die Straßen für Jyoti Singh Pandey. Die Öffentlichkeit machte deutlich, dass sie eine neue Rolle für Frauen in Indien will. Am 13. September 2013 sprach ein Gericht in Delhi die sechs Angeklagten schuldig. Die Hoffnung lebt also weiter, dank der sozialen Medien und des dauerhaften Kampfs der feministischen Gruppen sowie der Bürgerrechtler und vor allem der Humanisten. Auf dass Indien die Fahne der Meinungsfreiheit bald wieder hoch hält.

Die Autorin Debarati Guha arbeitet als Teamleiterin in der Bengali-Redaktion der Deutschen Welle. Ihr Text entstand in Kooperation mit der Zeitschrift "Politik und Kultur" für das Projekt "Art of Freedom. Freedom of Art."