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Inflation sorgt für Comeback der Montagsdemos

5. September 2022

Linke und Rechte protestieren in Deutschland gegen steigende Preise für Gas, Strom und Lebensmittel. Montagsdemonstrationen 2022 wecken Erinnerungen an die friedliche Revolution in der DDR, Pegida und Corona-Proteste.

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Protest gegen steigende Energiepreise und steigende Lebenshaltungskosten in Leipzig
Protest gegen steigende Energiepreise und steigende Lebenshaltungskosten in LeipzigBild: Christian Mang/REUTERS

Alles wird teurer seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs im Februar 2022 – weltweit. In der Europäischen Union (EU) liegt die Inflation, also die Teuerungsrate, nur noch knapp unter der zehn-Prozent-Marke. Spitzenreiter innerhalb der 27 EU-Länder sind die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen mit Werten jenseits der 20-Prozent-Marke. So gesehen steht Deutschland mit aktuell 7,9 Prozent noch relativ gut da.

Doch dafür können sich viele Menschen im wahrsten Sinne des Wortes nichts kaufen. Sie spüren die drastisch steigenden Preise beim Blick auf die Liter-Preise an Tankstellen, beim Einkauf im Supermarkt und vor allem bei den Kosten für Gas, Öl und Strom. Die Bundesregierung hat darauf mit einem weiteren Entlastungspaket mit einem Volumen von 65 Milliarden Euro reagiert.

Leipzig war Hotspot der Montagsdemos gegen das DDR-Regime

Viele halten auch das für unzureichend, allen voran linke und rechte Parteien in Deutschland. Deshalb haben sie schon vor den jüngsten Beschlüssen der Politik einen "heißen Herbst" angekündigt – mit regelmäßigen Demonstrationen am Montag, beginnend am 5. September. Zuerst hatte die kleinste Oppositionsfraktion im Bundestag, die Linke, dazu aufgerufen. Als Premierenort entschied sie sich für Leipzig. Die vom Linken-Parlamentarier Sören Pellmann initiierte Kundgebung steht unter dem Motto "Preise runter – Energie und Essen müssen bezahlbar sein". 

Die Wahl fiel damit auf jene international bekannte Messe- und Universitätsstadt im Osten des Landes, in der die Menschen 1989 mit ihren Montagsdemonstrationen entscheidend dazu beitrugen, die Diktatur in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) zu stürzen. Mit dem Ruf "Wir sind das Volk" protestierten damals Hunderttausende gegen das kommunistische Regime der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). 

AfD und Freien Sachsen konkurrieren mit der Linken

Dass die Linke zum Auftakt ihrer regelmäßig geplanten Demonstrationen ausgerechnet an einem Montag mobilisiert, finden manche geschichtsvergessen. Die Grünen kritisierten den Leipziger Bundestagsabgeordneten und Ost-Beauftragten seiner Fraktion, Sören Pellmann, weil er auch den Begriff "Montagsdemo" verwendet hatte: Das Wort habe symbolische Bedeutung aus der Zeit der friedlichen Revolution in der DDR, die sich gegen die SED und damit gegen eine Vorläuferpartei der Linken gerichtet habe.

Frauen und Kinder inmitten einer friedlich protestierenden Menschenmenge entzünden Kerzen
Mit Kerzen und dem Ruf "Keine Gewalt!" läuteten die Menschen auf den Montagsdemos in Leipzig das Ende der DDR einBild: Waltraud Grubitzsch/ZB/picture alliance

Weiterer Kritikpunkt: Pellmann, der in Leipzig ein Direktmandat für die Linken gewonnen hat, und seine Partei nähmen in Kauf, "dass damit rechte Vereinnahmungen der Montagsdemonstrationen in der Mitte der Stadt salonfähig werden können". Eine Anspielung darauf, dass neben der Linken auch mehrere rechte Parteien zu Demonstrationen aufgerufen haben: eine rechtsextreme Splitterpartei namens Freie Sachsen sowie die im Bundestag vertretene und vom Verfassungsschutz beobachtete Alternative für Deutschland (AfD).

Schirdewan kündigt "kraftvollen, friedlich Protest" an

Die Bundesspitze der Linken wehrt sich gegen die Vorwürfe. Man sei sich der Gefahr von rechts bewusst, sagt Janine Wissler, die sich den Parteivorsitz mit Martin Schirdewan teilt. Auch er rechtfertigt die Demonstration an einem Montag in Leipzig und erwartet "kraftvollen, friedlichen Protest" für eine Kurskorrektur der Politik.

Martin Schirdewan (l.) und Janine Wissler lächeln vor einem Logo der Partei Die Linke in die Kamera
"Kraftvollen, friedlichen Protest" erwartet das Linken-Duo Martin Schirdewan und Janine WisslerBild: Martin Schutt/dpa/picture alliance

Unter dem Motto "Menschen entlasten. Preise deckeln. Übergewinne besteuern" will Schirdewan die Bundesregierung unter Druck setzen. Und Janine Wissler betont: Gerade Proteste gegen die wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Ukraine-Kriegs dürfe man nicht den Rechten überlassen. Schließlich sei die Linke die Partei der sozialen Gerechtigkeit. 

2004 war die Agenda 2010 Anlass von Montagsdemos

Wie groß allerdings die Gefahr der Vereinnahmung durch Rechte ist, haben diese schon unter Beweis gestellt: "Freie Sachsen unterstützen den Montagsprotest von Sören Pellmann und der Linken – Gemeinsam gegen die da oben". Unter diesem Motto hatte die Kleinstpartei ihre Kundgebung am selben Ort wie die Linke in der Nähe des Leipziger Hauptbahnhofs angemeldet und erweckte damit den Eindruck, an einem Strang mit dem politischen Gegner zu ziehen. Dagegen wehrte sich die Linke juristisch – mit Erfolg.

Protest unter dem Label "Montagsdemos" hat es nach dem Ende der DDR-Diktatur immer wieder gegeben. Mal kam er von links, mal von rechts. 2004 mobilisierte die aus der SED hervorgegangene Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) und heutige Linke gegen den als "Agenda 2010" bezeichneten Umbau des Sozialstaates unter der damaligen Regierung aus Sozialdemokraten (SPD) und Grünen. Kern der Reformen waren geringere staatliche Unterstützungen für Arbeitslose und Sozialhilfe-Empfänger.

Pegida vereinnahmt den Schlachtruf: "Wir sind das Volk"

Ab 2014 demonstrierten zunächst im Bundesland Sachsen, später in ganz Deutschland die fremdenfeindlichen "Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes" (Pegida) immer montags gegen zunehmende Einwanderung. Als 2015 rund eine Million Flüchtlinge vor allem aus Bürgerkriegsländern wie Syrien, Afghanistan und Irak nach Deutschland kamen, erlebte die Bewegung ihren Höhepunkt.

Tausende Menschen schwenken auf einer Pegida-Demo 2015 in Dresden Deutschland-Fahnen und halten Protest-Plakate in die Höhe
Pegida-Protest gegen Zuwanderung von Flüchtlingen nach Deutschland an einem Montag im Oktober 2015 in DresdenBild: picture alliance/AA/M. Kaman

Allein in der sächsischen Landeshauptstadt Dresden gingen bis zu 25.000 Menschen auf die Straße und versuchten rhetorisch mit dem Slogan "Wir sind das Volk" gezielt an die Tradition der friedlichen Revolution in der DDR anzuknüpfen. Pegida-Proteste gibt es zwar auch 2022 noch, die Resonanz ist jedoch bescheiden: Mehr als 200 Menschen nehmen selten teil.

Corona-Protest als "Spaziergang" getarnt

Eine Massenbewegung etablierte sich hingegen vorübergehend auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie. Auch die als "Spaziergang" bezeichneten Proteste gegen die Politik der Bundesregierung zur Eindämmung der Virus-Krankheit fanden stets montags statt. Mit sinkenden Infektionszahlen und dem Wegfall fast aller Beschränkungen wie Maskenpflicht in Geschäften, Kinos oder Konzertsälen ist aber auch diese Abwandlung der Montagsdemos abgeebbt.

Eine große Menschenmenge läuft während einer Corona-Demo abends durch beleuchtete Straße in Nürnberg
Als "Spaziergang" bezeichnen die Teilnehmer auf Corona-Demos wie hier in Nürnberg ihre MontagsdemosBild: Daniel Vogl/dpa/picture alliance

Nun soll jeden Montag gegen ständig steigende Kosten in fast allen Lebensbereichen protestiert werden. Politik und Sicherheitsbehörden stellen sich auf einen "heißen Herbst" ein. Einen heißen Herbst mit regelmäßigen Protestveranstaltungen gegen die Folgen der Inflation und die Politik der Bundesregierung. Montagsdemos haben also wieder Konjunktur. Und der Streit über den vermeintlichen oder tatsächlichen Missbrauch des Originals aus dem Herbst 1989 wird wohl weitergehen.