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GesellschaftLateinamerika

Börsentipps für kleine Leute

3. Mai 2021

Kleinanleger stürmen in Scharen an die Börse - auch in Brasilien. Und so haben auch Finanz-Influencer Konjunktur. Eine von ihnen wendet sich ganz bewusst an diejenigen, die denken, sie hätten zu wenig, um zu investieren.

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Brasilien Börse in São Paulo
Bild: Cris Faga/NurPhoto/picture alliance

Sie ist jung, sie ist schwarz und sie hat eine Menge Ahnung von privaten Finanzen: Als "Nath Finanças" spricht Nathália Rodrigues in ihren Social-Media-Kanälen über alles, was mit Geld zu tun hat: Wie man seine monatlichen Ausgaben reduzieren kann, was der Leitzins ist, welche Anlageklassen es gibt und wie man seine Finanzen organisiert, damit man am Ende des Monats nicht ins Minus rutscht, sondern etwas zum Anlegen hat.

Vor gut zwei Jahren hat sie damit begonnen. Die ersten Youtube-Videos sind dürftig ausgeleuchtet, in manchen ist der Ton verrauscht. Mittlerweile lädt sie nur noch professionell produzierte Clips hoch und erreicht auf verschiedenen Social-Media-Plattformen mehrere Hunderttausend Menschen. 237.000 Follower haben beispielsweise ihren Youtube-Kanal abonniert, auf Twitter sind es fast eine halbe Million. "Als ich im Januar 2019 anfing, hatte ich nur mein Handy, heute beschäftige ich zehn Angestellte", sagt die 22-Jährige aus Rio de Janeiro.

Börsenboom in der Corona-Krise

Ihr Aufstieg als Influencerin fällt zusammen mit einem regelrechten Run auf die brasilianische Börse: Bis 2017 hatte die Zahl der Privatdepots an der Börse von São Paulo B3, ehemals Bovespa, jahrelang um die 600.000 gelegen. Nach einem moderaten Anstieg 2018 verdoppelte sich diese Zahl 2019 und 2020 zweimal hintereinander. Ende des ersten Quartals 2021 zählte die B3 fast 3,6 Millionen private Wertpapierdepots.

Infografik Private Börseninvestitionen in Brasilien DE

Wie in vielen anderen Länder haben wohl auch in Brasilien sinkende Zinsen Menschen dazu veranlasst, ihr Geld erstmals in Wertpapieren anzulegen - also vor allem Aktien, Fonds oder festverzinsliche Anleihen. Große Privatbanken wie Banco do Brasil und Bradesco sprechen von der "Demokratisierung" des Investmentmarktes: "Wir machen Anlegern eine große Bandbreite von Wertpapieren ab einer Anlagesumme von einem Real zugänglich", so ein Bradesco-Sprecher.

Zielgruppe: die unteren Einkommensschichten

Trotz des rasanten Zuwachses der vergangenen zwei Jahre ist der Weg noch weit: Geht man von den 3,6 Millionen Depots aus, von denen manche auch derselben Person gehören könnten, dann besitzt in dem südamerikanischen Land mit seinen 212 Millionen Einwohnern gerade einmal ein bis zwei Prozent der Bevölkerung Wertpapiere. Zum Vergleich: In Deutschland sind es etwa zwölf Prozent, in den USA mehr als 50 Prozent.

Screenshot Instagram-Account von Nath Finanças
Instagram-Account von "Nath Finanças": "Du sprichst von den echten Erfahrungen der Menschen"Bild: instagram.com/nathfinancas

Für die Hälfte der Brasilianer liegt ein Börseninvestment außerhalb jeder Realität, weil sie nicht einmal den Mindestlohn von 1100 Real pro Monat (etwa 170 Euro) zur Verfügung haben. Und ihre Zahl ist in der Corona-Krise eher gestiegen als gesunken. Dessen ist sich auch Nathália Rodrigues bewusst.

Wenn sie also sagt, dass ihre Zielgruppe die unteren Einkommensschichten sind, geht es um Menschen, die genug zum Leben haben, aber glauben, es sei zu wenig, um etwas zu sparen: "Auch wenn man am Ende des Monats nur zehn oder 20 Real übrig hat, ist das ein Anfang, um seine Finanzen in den Griff zu bekommen."

Volkssport: Schulden machen

Genau daran scheitern nämlich viele Brasilianer: Nach Zahlen des Nationalen Handels- und Dienstleistungsverbandes CNC waren im Januar 2021 zwei von drei Familien verschuldet. Jede vierte Familie war sogar mit ihren Ratenzahlungen im Rückstand.

An der Corona-Krise liegt das nur bedingt: Beide Zahlen sind im Vergleich zum Vorjahr um nur einen Prozentpunkt gestiegen. Das Hauptproblem, sagt Influencerin Rodrigues, sei ein anderes: "Sobald man in Brasilien ein Konto eröffnet, geben die Banken einem eine Kreditkarte. Und damit verlieren viele Menschen sehr schnell die Kontrolle über ihre Ausgaben." Die CNC-Zahlen geben ihr Recht: Mehr als 80 Prozent der Rückstände entstehen auf Kreditkarten-Konten.

Die Kontrolle über die Finanzen gewinnen

Rodrigues will den Menschen helfen, die Kontrolle zurückzugewinnen. In ihren Videos geht es letztlich um eine Haushaltsführung, die der sprichwörtlichen schwäbischen Hausfrau zu Ehre gereichen würde. Sie spricht nicht über Trendaktien, ausgefeilte Investmentstrategien oder finanzielle Unabhängigkeit.

Brasilien Börse in São Paulo
Börse B3 in São Paulo: Immense Zunahme privater WertpapierdepotsBild: RobertoxCasimiro/Fotoarena/imago images

Als "Nath Finanças" vermittelt sie eigentlich zwei Dinge: Eine Grundhaltung, die so vielen Menschen im Zeitalter des Konsumismus abhandengekommen ist - frei nach dem Motto, "die Pflicht kommt vor der Kür". Zum anderen gibt sie ganz konkrete Praxistipps: Wie man ein kostenloses Konto eröffnet, wie man einen günstigeren Stromvertrag findet und dass man sich unbedingt einen Notgroschen anlegen sollte, um notwendige Investitionen wie einen neuen Kühlschrank eben nicht auf Pump kaufen muss, was teuer werden kann.

Authentizität ist Trumpf

Für ihre Videos, sagt die BWL-Studentin, recherchiere sie ihre Themen eingehend. Denn sie will nur über Dinge sprechen, mit denen sie sich auskennt. Und dazu gehören ganz offensichtlich auch die Probleme ihrer Follower: "Du sprichst von den echten Erfahrungen der Menschen. Du versprichst nicht, jemanden reich zu machen, sondern beschreibst deine eigenen Erlebnisse und was du aus ihnen gelernt hast", beschreibt ein User, was er besonders an "Nath Finanças" findet.

Kurz gesagt: Was Rodrigues sagt, hat Hand und Fuß, es ist verständlich und relevant für ihre Zielgruppe. Dazu wirkt sie nicht wie eine Dozentin, sondern wie eine gute Freundin, die das Problem selber kennt. In ihrem Video "Finanzielle Fehler, die ich gemacht habe", erzählt sie, wie sie früher ihr kleines Praktikumsgehalt für Schuhe und T-Shirts ausgegeben, die ihr nach zweimal Tragen nicht mehr gefielen. Das habe sie nun abgestellt, obwohl sie mehr Geld verdiene.

Allein unter Weißen

Was auch zu ihrer Authentizität beitragen könnte: Als "Schwarze mit heller Haut", als die sie sich selbst bezeichnet, ist Rodrigues eine echte Ausnahme unter den brasilianischen Finanz-Youtubern. Die weitaus meisten sind nicht alte, aber weiße Männer und weiße Frauen.

Brasilien | Finanz-Influencer | Nathalia Arcuri & Thiagro Nigro
Youtuber Arcuri und Nigro: Sechsstellige Investments vor laufender KameraBild: Youtube/O Primo Rico

Zu den meist abonnierten Finanz-Kanälen auf Youtube gehört in Brasilien der von Journalistin Nathalia Arcuri, die sich gern in einem schicken Luxusappartement filmen lässt. Damit ist sie nicht die einzige. Bei anderen Finanz-Youtubern dienen oftmals teuer anmutende Weinflaschen oder Designermöbel als Dekoration; der Finanzberater Thiago Nigro, alias "O Primo Rico" (Der reiche Cousin), investiert vor laufender Bildschirmkamera sechsstellige Beträge an der Börse.

Die Hautfarbe ist Fluch und Segen

Die Sets von Rodrigues erzeugen keine Assoziationen von Reichtum. Und so ist es den gängigen Klischees folgend auch mit ihrer Hautfarbe. Dessen ist sich Rodrigues durchaus bewusst: "Ich glaube schon, dass es bei vielen Menschen meiner Zielgruppe auch an meiner Ethnie liegt, dass sie sich eher mit mir als mit meinen Influencer-Kollegen identifizieren können."

Allerdings sei das ein zweischneidiges Schwert: "Vor allem wenn ich mal einen Fehler mache, wie das Menschen nun einmal tun, schlagen mir offen rassistische und frauenfeindliche Kommentare entgegen", sagt Rodrigues. "Diese Menschen sehen dann ihre Vorurteile bestätigt: Dass eine Frau besser nicht über Finanzen reden sollte - und schon gar keine schwarze."

Doch von solchen Anfeindungen lässt sich Rodrigues nicht bremsen. Anfang des Jahres hat sie ihr erstes Buch "Haushalt ohne Lücken" ("Orçamento sem Falhas") veröffentlicht. "Es ist das Einzige meiner Produkte, für das ich Geld nehme", sagt Rodrigues. Alles andere - ihre Videos, ihr Podcast et cetera - sei für ihr Publikum kostenlos. Und das solle auch so bleiben. Würden die Menschen ihrer Zielgruppe Geld für Seminare oder Investment-Dossiers ausgeben, bliebe ihnen nichts mehr zum Anlegen.

Brasiliens Arme in der Pandemie

Jan Walter Autorenfoto
Jan D. Walter Jan ist Redakteur und Reporter der deutschen Redaktion für internationale Politik und Gesellschaft.