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Literatur

Ingeborg Bachmann: "Malina"

Sabine Peschel
6. Oktober 2018

Wie Bachmanns Roman aus dem "Todesarten"-Zyklus zu lesen war, darum stritten sich die Literaturkritiker beim Erscheinen 1971 in seltener Uneinigheit. Die radikal poetische Dreiecksgeschichte wurde trotzdem ein Erfolg.

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Porträt Ingeborg Bachmann
Ingeborg Bachmann - Lyrikerin, Schriftstellerin, HörspielautorinBild: picture-alliance/dpa

"Todesarten" nannte Ingeborg Bachmann damals ihren dreiteiligen Romanzyklus, den die Lyrikerin in den 1960er Jahren anlegte. "Malina" sollte darin die "Ouvertüre" bilden, eine "Geschichte im Ich". 1971 erschien der Roman im Suhrkamp Verlag. Es sollte der einzige zu ihren Lebzeiten als vollständiges Manuskript veröffentlichte Roman sein, alle anderen Prosatexte blieben Fragment. 

Und es war das erste Buch, für das der Suhrkamp-Verlag im Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" extra Werbung schaltete. Mit nachhaltigem Erfolg, der Roman verkaufte sich ausgesprochen gut. Das war zu dieser Zeit kein Selbstläufer. Literatur-Kritiker wie Marcel Reich-Ranicki hätten lieber gesehen, dass die Autorin bei der Lyrik geblieben wäre. 

"Malina" von Ingeborg Bachmann

Komplexe Romankomposition 

Die Kritiker verkannten die poetische Qualität, mit der Bachmann ihren komplexen Roman angelegt hatte. Sie selbst bezeichnete ihn als eine "geistige, imaginäre Autobiographie". Doch wenn man die Bezüge auf die Biografie der Autorin zu reduzieren versucht, wird man am Kern scheitern.

Eine Entwicklung der Handlung lässt sich im Roman nicht einfach herauskristallisieren. Klar ist nur sein Aufbau: Drei große Kapitel folgen aufeinander: "Glücklich mit Ivan", "Der dritte Mann", "Von letzten Dingen". Wie für ein Theaterstück listet die Autorin zu Beginn die Figuren einzeln auf, definiert sie den Handlungsort Wien und die Zeit als Gegenwart. 

Unmöglichkeit der Liebe zwischen Mann und Frau

Vordergründig geht es um den Anfang und das Ende einer leidenschaftlichen Liebesbeziehung: Zwischen der namenlosen Ich-Figur zu "Ivan", dem ungarischen Nachbarn, der mit seiner Frau und Kindern in der Ungargasse lebt. Mit dem Geliebten spielt sie Schach, raucht, und wenn er abwesend ist, wartet sie verzweifelt auf seine Anrufe.

Film Malina, Regie Werner Schroeter - nach Ingeborg Bachmann
Isabelle Huppert ("Ich") und Matthieu Carriere (Malina) in Werner Schroeters Verfilmung von "Malina" (1991)Bild: Imago/United Archives

Die Figur Ivans - hinter der manche Interpreten Bachmanns früheren Lebenspartner Max Frisch zu identifizieren glaubten - bleibt merkwürdig unscharf. Der Mann, gehetzt von der Arbeit, konfliktscheu, und von ihrer Verzweiflung unberührt, reduziert sie auf ihre Frauenrolle. "Er sagt auch: Ich muss doch dir nachlaufen, sorg dafür, du darfst mir nie nachlaufen ..."

Seinen Titel verdankt der Roman der Figur, mit der das weibliche Ich die Wohnung in der Ungargasse 6 im dritten Wiener Bezirk teilt. Dieser Malina verkörpert das männliche Lebensprinzip, ist als beamteter Militärhistoriker in der Realität verankert. Die erotische Liebe seiner Mitbewohnerin zu Ivan tabuisiert er und versucht, Ordnung in das Leben der Erzählerin zu bringen. Nicht nur äußerlich, sondern auch in ihrem Innenleben, indem er sie vor ihrer Verzweiflung schützt. 

Trauma der Weiblichkeit

Diese komplimentäre Figur bildet mit dem weiblichen Ich ein regelrechtes Zwitterwesen. "Ivan ist nicht gewarnt vor mir. Er weiß nicht, mit wem er umgeht, dass er sich befasst mit einer Erscheinung, die auch täuschen kann, ich will Ivan nicht in die Irre führen, aber für ihn wird nie sichtbar, dass ich doppelt bin. Ich bin auch Malinas Geschöpf."

Forumsdiskussion zur 600-Jahr-Feier der Universität Wien mit Dieter Wellershoff
600-Jahr-Feier der Universität Wien: (v.li.n.re) Manes Sperber, Dieter Wellershoff, Ingeborg Bachmann, Heribert SteinbauerBild: picture-alliance/B. Pflaum

Doch Malinas Vernunftsprinzip bedeutet für den weiblichen Anteil des Ichs den Tod. "Töte Ivan!", befiehlt Malina, aber das weibliche Ich erkennt, dass das auch sein eigenes Ende ist: "Ich habe in Ivan gelebt und ich sterbe in Malina." Berühmt sind die letzten Worte des Romans, mit denen das Ich in einer Wandspalte verschwindet. "Es war Mord."

In Bachmanns damals völlig neuartiger Erzählweise verschwimmen die Grenzen zwischen fiktiver Realität und Vorstellung. Das ganze zweite Kapitel ist herausgelöst aus der verorteten Liebesgeschichte: "Der Ort ist diesmal nicht Wien. Es ist ein Ort, der heißt Überall und Nirgends. Die Zeit ist nicht heute. Die Zeit ist überhaupt nicht mehr ..."

Weibliches Leiden an patriarchaler Gewalt

Traumartig erzählt dieses Kapitel die Leidensgeschichte mit dem Vater. Bachmann schockierte ihre Leser mit diesen Schilderungen von inzestuöser Vergewaltigung, von der schrecklichen Barbarei patriarchalischer Macht:

"Ich tauche tiefer und schreie unter Wasser: Nein! Und: Ich will nicht mehr! Ich kann nicht mehr! Ich weiß, dass es wichtig ist, unter Wasser zu schreien, weil es auch die Haie vertreibt, so muss das Schreien auch meinen Vater vertreiben, der mich anfallen will, mich zerfleischen will, oder er will wieder mit mir schlafen, mich packen vor dem Riff, damit meine Mutter es sieht."

Malina Filmstill
Isabelle Huppert in einer Filmszene von Werner Schroeters Kinofilm "Malina" (1991)Bild: picture-alliance/United Archives

Literaturwissenschaftler lasen aus diesen literarischen Passagen das Leiden der Autorin an der in den österreichischen Gesellschaftsstrukturen verborgenen Gewalt heraus, die nicht bewältigten Verbrechen des Nationalsozialismus. Die Frauenbewegung der 1980er Jahre, die den Roman Bachmanns wiederentdeckte, sah darin das unerträgliche Geschlechterverhältnis in einer patriarchalischen Gesellschaft ungemein zutreffend thematisiert. 

Poetische Leichtigkeit des Seins

Die österreichische Schriftstellerin Elfriede Jelinek schrieb das Drehbuch für die sehr gelungene Literatur-Verfilmung von Regisseur Werner Schroeter, die 1991 mit Isabel Huppert in der Hauptrolle ins Kino kam. Für Jelinek war Ingeborg Bachmann die erste Frau nach 1945, die mit "radikal poetischen Mitteln das Weiterwirken des Krieges, der Folter, der Vernichtung in der Gesellschaft" herausgestellt hat.

Es ist die Poesie der Sprache Bachmanns in "Malina", die der Schwere ihrer Schilderungen und der psychologischen Tiefe ihrer Literatur trotz allem Leichtigkeit verleiht. 

 

Ingeborg Bachmann: Malina (1971), Suhrkamp Verlag

Ingeborg Bachmann wurde 1926 in Klagenfurt geboren. Sie studierte Philosophie, Psychologie und Germanistik. 1953 erlebte sie ihren Durchbruch als Schriftstellerin. An ihrem "Todesarten"-Projekt arbeitet sie in den Jahren 1963-73 in Berlin und in Rom. In "Malina" spricht sie gegen Ende des Buches von ihrem Verlangen nach Schlaftabletten und erwähnt die "heiße Herdplatte", auf die ihr Kopf nicht fallen dürfe. Bachmann starb im September 1973 an den Folgen ihrer Verbrennungen. Sie war mit einer brennenden Zigarette eingeschlafen.