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Politik

Inhaftierte Musiker: "Todesfasten" um gehört zu werden

Elmas Topcu | Daniel Derya Bellut
13. Februar 2020

Die Musikband Grup Yorum hat eine große Fangemeinde in der Türkei. Dennoch steht sie permanent im Fadenkreuz der Justiz. Mit einem Hungerstreik protestieren zwei Mitglieder jetzt gegen Rechtslosigkeit.

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Türkei |  Musikgruppe Grup Yorum im Hungerstreik | Helin Böle
Bild: Fosem

Helin Bölek und Ibrahim Gökcek sind zwei von acht Musikern der populären, linksgerichteten Band Grup Yorum. Vor knapp einem Jahr wurden sie bei einer Razzia im Istanbuler Idil-Kulturzentrum von der Polizei festgenommen. Sie wirft ihnen Mitgliedschaft in der linksextremistischen Organisation DHKP-C vor. Aus Protest gegen das Urteil traten Bölek und Gökcek in Hungerstreik, sie nennen es "Todesfasten". Seit mehr als 230 Tagen verweigern sie die Nahrungsaufnahme, mittlerweile befinden sie sich in einem lebensbedrohlichen Zustand. 

Helin Bölek wurde im November freigelassen, sie setzt ihren Hungerstreik jedoch weiter fort. Und zwar solange, sagt sie, bis die türkische Justiz das Verfahren gegen die Mitglieder der Musikgruppe einstellt. Zudem verlangen Bölek und Gökcek, dass das Konzert-Verbot aufgehoben wird und die ständigen Polizei-Razzien an ihrer Wirkungsstätte - dem Istambuler Idlib-Kulturzentrum - zukünftig unterlassen werden. 

Nach 200 Tagen wird es gefährlich

Ihre Mandanten befänden sich in einem sehr besorgniserregenden Zustand, beklagt die Anwältin der beiden Musiker, Didem Baydar Ünsal. "Sie sind sehr geschwächt", sagt sie, die Auswirkungen des anhaltenden Hungers seien schwerwiegend: "Ihre Füße brennen, sie haben Schwellungen am Körper, Gehschwierigkeiten, Schlafstörungen, Krämpfe, Kopfschmerzen, Ermüdung und ein Taubheitsgefühl am ganzen Körper".

Türkei |  Musikgruppe Grup Yorum im Hungerstreik | İbrahim Gökçek
Ibrahim Gökcek - seit über 230 Tagen betreibt er "Todesfasten" Bild: privat

Die Ärztin und Menschenrechtlerin, Prof. Sebnem Korur Fincanci, zeigt sich besorgt darüber, dass der Hungerstreik bereits über 200 Tage dauert. Jetzt sei der Zeitpunkt gekommen, so Fincanci, an dem das Todesfasten richtig gefährlich wird. Zwar könnten Menschen trotz starkem Gewichtsverlust überleben, sofern der menschliche Körper mit Vitaminen, Flüssigkeit, Salz, Karbonat und Zucker versorgt wird. "Ist aber der gesundheitliche Zustand vor Beginn des Fastens nicht ausreichend, kann eine solche Protestform zum Tode führen", so die Gerichtsmedizinerin.

Deutschland türkische Menschenrechtlerin Sebnem Korur Fincanci in Düsseldorf
Das Problem in der Türkei sei, dass Häftling kaum erhört werden, sagt Fincanci Bild: picture-alliance/dpa/M. Becker

Aus den Jahren 1996 und 2000 sind extreme Hungerstreiks mit Todesfolgen in weiten Teilen der türkischen Öffentlichkeit noch schmerzhaft in Erinnerung. Korur Fincanci, Trägerin des Hessischen Friedenspreises, glaubt, dass Häftlinge in der Türkei zu diesem drastischen Mittel greifen, weil sie nicht erhört würden. "Der Grund, warum Menschen sich zu Tode fasten und ihre Körper in Lebensgefahr bringen, hängt damit zusammen, dass sie kein Recht auf ein faires Verfahren und kein Recht auf Leben haben."

"Politische Gefangene werden als Feinde betrachtet"

Zülfü Livaneli
Häftlinge werden zu sehr als Feindbild gesehen, meint der Komponist Livaneli Bild: picture-alliance/dpa

Auch der Komponist Zülfü Livaneli, der bei den Hungerstreiks Anfang der 2000er Jahre vermittelte, meint, dass Häftlinge in türkischen Gefängnissen nicht ausreichend unter dem Schutz des Staates stünden sondern stattdessen von türkischer Regierung und Justiz als Feinde betrachtet würden. "Der Staat sieht diese Menschen nicht als ihre Bürger. Sie würden sich freuen, wenn die Erinnerung an sie und sogar ihre Existenz sich auflösen würden.

Die Rechtsanwältin Gülizar Tuncer ist ebenfalls der Auffassung, dass der Staat 'politische Gefangene' als Feinde betrachtet. "Diese Haltung kann man den Gerichtsakten entnehmen." Tuncer verweist auf die Tragödie vom 19. Dezember 2000, als ungefähr 1000 Häftlinge in verschiedenen türkischen Gefängnissen gegen die Eröffnung von Typ-F-Gefängnissen protestierten - ein damals neuartiges Hochsicherheitsgefängnis, das die Isolationshaft erleichtern sollte. Als türkische Sicherheitskräfte zeitgleich 20 Gefängnisse stürmten, um den Hungerstreiks ein Ende zu setzen, kamen 30 Häftlinge ums Leben. Tuncer verweist darauf, dass in den Akten die Polizisten als "befreundete Kräfte" und die Gefangenen als "Feinde" tituliert wurden. Dies zeige, wie festgefahren das Feindbild sei.

Mutmaßliche Nähe zu Extremisten

Die Musikband Grup Yorum ist für ihre politischen Botschaften in ihren Songtexten bekannt und erfreut sich seit den 1980er Jahren einer enormen Beliebtheit. Doch seit ihrer Gründung steht sie permanent im Visier der türkischen Justiz. In zahlreichen Fällen wurden Mitglieder verhaftet oder vor Gericht gestellt, mehrere Razzien wurden im Kulturzentrum der Musikgruppe durchgeführt. Einige ihrer Alben wurden zensiert. 

In dem Tweet sieht man Ibrahim Gökcek, rechts sein körperlicher Zustand vor dem Todesfasten.

Der Vorwurf in den meisten Fällen lautet, dass Grup Yorum der marxistisch-leninistischen Organisation DHKP-C nahestehe - diese wird sowohl in der Türkei als auch in Deutschland als terroristische Vereinigung eingestuft. Auch den zurzeit inhaftierten Mitgliedern von Grup Yorum wird Mitgliedschaft in der DHKP-C vorgeworfen. Die Musiker haben elf Monate auf ihre Anklage gewartet, am Freitag findet die erste Anhörung im Prozess statt.

 

Elmas Topcu | Journalistin
Elmas Topcu Reporterin und Redakteurin mit Blick auf die Türkei und deutsch-türkische Beziehungen@topcuelmas