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Internationale Pressestimmen der vergangenen Woche

zusammengestellt von Frank Gerstenberg29. Januar 2005

Die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz vor genau 60 Jahren steht im Mittelpunkt des internationalen Medieninteresses.

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Die spanische Zeitung EL MUNDO schreibt zum Gedenktag:

"Nur wenig hatten geglaubt, dass Hitler seine antisemitischen Drohungen wahr machen würde. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass die Deutschen weggeschaut haben, als Hunderttausende von jüdischen Familien verfolgt wurden. Bis heute ist die Frage unbeantwortet, wie eine solche Barbarei in einer zivilisierten und gebildeten Gesellschaft wie der deutschen möglich war. Die Antwort hat viel mit den Tiefen der menschlichen Seele und den Umständen im damaligen Deutschland zu tun. Der Holocaust war das schwerste Verbrechen gegen die Menschlichkeit aller Zeiten. Für die Verantwortlichen darf es kein Pardon und kein Verständnis geben. Das Wichtigste jedoch ist, dass die Welt den Schrecken niemals vergisst",

notiert EL MUNDO aus Madrid.

Die italienische Tageszeitung CORRIERE DELLA SERA fordert gar:

"Man müsste immer wieder dorthin zurückkehren und sich die Bahnlinie anschauen, den Stacheldraht, die Öfen und die Baracken. Und man müsste die Kinder dorthin bringen. Und den Kindern raten, ihre Kinder dorthin zu bringen. Und niemals aufhören, das Unerklärliche zu erklären, den unendlichen Horror dieses Abgrunds zu erzählen. Dies ist der konstante Gedanke, der sich fast mit Besessenheit wiederholt."

In der britischen Zeitung THE INDEPENDENT heisst es:

"Der 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz hat heute eine besondere Würde. Wie schon beim D-Day-Gedenken im vergangenen Jahr schwingt ganz deutlich mit, dass die Generation, die das alles noch erlebt hat, jetzt abtritt. Das Band, das die nachfolgenden Generationen mit der Vergangenheit verbindet, wird dünner. Das ist der Grund, warum man in diesem Jahr vielleicht eine besondere Feierlichkeit verspüren kann, wenn man um so viele Leben trauert, in dem Wissen, was Menschen einander antun können."

Das französische Blatt LIBÉRATION sieht die Auschwitz-Erinnerung als Aufgabe der Menschlichkeit:

"Die Lehre der Judenverfolgung beginnt durch die Lehre der Geschichte insgesamt, von der sie ein Kapitel ist. Das Eine geht nicht ohne das Andere. Zeugen sterben, und Bücher und Filme werden für die Weitervermittlung immer wichtiger. Aber Auschwitz, und das, was dieser Ort bedeutet, ist der Augenblick, in dem das Gewissen der Geschichte getroffen wird, weil dort das Ausmaß des Holocaust die Fähigkeit zur Darstellung übersteigt. Die Ermordung der Juden ist nicht nur eine Aufgabe der Erinnerung, sondern auch eine Forderung nach Gerechtigkeit. Diese schlimmste Unmenschlichkeit ist eine Aufforderung an jeden, die Erinnerung als Aufgabe der Menschlichkeit lebendig zu halten",

bemerkt die Zeitung LIBERATION aus Paris.

Die FINANCIAL TIMES lobt Deutschland für seine - wie es heißt - "beispielhafte Holocaust-Erziehung":

"Deutschland setzt strenge Gesetze gegen extremistische Tendenzen, Nazi-Symbole, antisemitische Rhetorik und gegen die Verleugnung des Holocausts durch. Es gibt Unterricht zum Holocaust in den Schulen, und diese Lektionen sind Teil des nationalen Bewusstseins. Deutschlands politische Führer gehören, wie sie es auch sollten, zu den sensibelsten und den entschiedenen Befürwortern des Unterrichts über den Holocaust und des Schutzes der jüdischen Gemeinden überall."

Die ebenfalls in London erscheinende THE TIMES gibt aber auch zu bedenken:

"Fast jeder Aspekt des Lebens in Deutschland ist immer noch mit dem furchtbaren Erbe belastet. Das Widerstreben, Truppen für Kampfeinsätze zu entsenden, Pazifismus, Einsatz für die Umwelt, Opposition zur Stammzellenforschung, sprachliche Tabus und Konsenspolitik. Diese Bemühungen waren weitgehend erfolgreich, und für ihre Reparationsleistungen, sowohl intellektuell als auch materiell, muss man den Deutschen applaudieren. Das Land weiß, dass es eine höhere Verantwortung hinsichtlich der Demokratie und des politischen Extremismus trägt."

Die SALZBURGER NACHRICHTEN warnen jedoch mit Blick auf die NPD und die Neonazis in ganz Europa:

"Deutschland tut wahrlich viel, um die Lehren aus dem Holocaust zu ziehen. Gesetze bekämpfen extremistische Tendenzen, Nazi-Symbole, antisemitische Rhetorik. Schulen geben die bitteren Lektionen aus der Zeit des 'Dritten Reiches' an die Jugend weiter. Und dennoch könnte man schier verzweifeln. Zu Beginn des Gedenkjahres trat in einem deutschen Landesparlament ein rotziger Neonazi auf und verhöhnte all diese Bemühungen mit einer unsinnigen Aufrechnung von Opfern. Dies zwingt die aufrechte und anständige Mehrheit in Deutschland, ja in ganz Europa, sich erneut mit dem Bodensatz der ewigen Leugner und Verdränger auseinander zu setzen. Der Plan des deutschen Innenministers Schily, auch Veranstaltungen zu verbieten, die die Nazizeit verharmlosen und verherrlichen, ist eine notwendige Maßnahme der Selbstverteidigung der Demokratie."

Die ebenfalls in Österreich erscheinende Zeitung DER STANDARD kritisierte, dass sich die Regierung in Wien nicht an den offiziellen Feiern zum 60. Jahrestag der Befreiung des KZs Auschwitz beteiligt:

"In Österreich wird dieses Datums mit Sicherheit im Privaten gedacht, erinnert und betrauert werden - die heimische Regierung jedoch scheint diesen Jahrestag, höflich formuliert, ignorieren zu wollen. Keine Festsitzung, keine Ansprache, keine Kranzniederlegung Im Jubiläumsjahr 2005 müssen nicht die letzten zwei Kapitel österreichischer Zeitgeschichte - jenes von 1938 bis 1945 und jenes danach - neu geschrieben werden. Was dringend fehlt, ist ein schmales Handbüchlein zum Umgang mit dieser Geschichte. Österreich braucht eine Erinnerungskultur, die diesen Namen verdient hat. Dazu gehört, dass man die Erinnerung an das Leiden der österreichischen Bevölkerung in der Besatzungszeit in den Kontext stellt mit den Verbrechen, die von Österreichern davor begannen wurden. Dazu gehört, dass man nicht nur die Erfolgsgeschichte des Wiederaufbaus lobt, sondern auch den pragmatischen Umgang mit Belasteten erklärt. Und dazu gehört, dass auch der Kanzler Worte und Taten für das findet, was Auschwitz heute repräsentiert."

So weit DER STANDARD aus Wien. Die französische Zeitung LE MONDE erklärt, warum diese Gedenkfeiern so wichtig sind:

"60 Jahre danach gibt es immer weniger direkte Zeitzeugen. Und die zehn Jahre, die jeweils zwischen den Gedenkfeiern zu den Jahrestagen liegen, machen die Aufgabe nur noch dringlicher, die Erinnerungen an diese Zeit weiterzugeben. Mehreren europäischen Ländern ist in den vergangenen Jahren klar geworden, wie wenig die jungen Generationen über diesen Abschnitt der Geschichte und die Judenvernichtung wissen. Einige europäische Länder haben auch mit verschiedenen Formen eines wieder verstärkten Antisemitismus und Rassismus zu kämpfen, was die Aufgabe, sich an diese Zeit zu erinnern, eindringlich unterstreicht."

Aus der in Brüssel erscheinenden LE SOIR erfahren wir:

"Die jüdische Einwanderung hat in Deutschland dank einer Regelung wieder begonnen, die 1991 von der Innenministerkonferenz beschlossen wurde. So sind mehr als 200.000 Juden aus der Ex-UdSSR seit der Wiedervereinigung eingewandert. Sie stellen damit die drittgrößte jüdische Gemeinschaft in Europa dar. Dass Deutschland, das Land des Verbrechens, bei den Juden aus Russland beliebter ist als Israel, ist in Tel Aviv nur schwer zu begreifen. Im Verlauf der vergangenen 15 Jahre war die Einwanderung in Deutschland größer als in Israel."

Hören Sie abschließend einen Kommentar der polnischen Zeitung RZECZPOSPOLITA:

"Polnische Konzentrationslager. Wie leicht schreiben Journalisten aus vielen Ländern diese Worte über Auschwitz und Birkenau. Das ist bedeutend kürzer als 'Konzentrationslager, die die deutschen Nationalsozialisten auf dem Territorium des besetzten Polens bauten'. Aber es ist eine Lüge. Es ist höchste Zeit, dass die ausländischen Medien vor allem die Wahrheit schätzen. Die bisherigen Möglichkeiten - empörte Briefe polnischer Botschafter und Kommentare in der polnischen Presse - erreichten nicht viel."