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Internationale Pressestimmen der vergangenen Woche

Hans-Bernd Zirkel15. November 2002

Trübe Aussichten für Deutschlands Finanzen / Russische Beschwerde beim deutschen Fernsehen

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Der vergangene Mittwoch war - so jedenfalls titelte das Massenblatt BILD - ein 'rabenschwarzer Tag für Deutschland', denn es wurden wirtschafts- und finanzpolitische Hiobsbotschaften verkündet: Steuerausfälle von mehr als 15 Milliarden Euro in diesem Jahr, lediglich ein Prozent Wachstum im kommenden Jahr und ein Staatsdefizit, das über der von Brüssel erlaubten Drei-Prozent-Grenze liegt. Grund genug also für die Auslandspresse, sich eingehend mit der Politik der Bundesregierung zu befassen.

'Vom Musterknaben zum Sorgenkind' überschrieb die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG ihren Kommentar und meinte:

"All diese schlechten Nachrichten stehen in engem Zusammenhang und sind vom Kabinett Schröder selbst verschuldet. Die Konjunktur lahmt stärker als in den meisten anderen EU-Ländern, weil die Regierung in den vergangenen vier Jahren nie den Mut und die Kraft aufgebracht hat, überfällige Strukturreformen beherzt in Angriff zu nehmen. Sowohl im Bereich des Arbeitsmarktes als auch bei der sozialen Sicherheit und im Gesundheitswesen blieb es bei Scheinreformen, oder es kam gar zu Verschlimmbesserungen. (...) Wer nun geglaubt hat, dass der im Amt bestätigte Schröder einen Neuanfang wagen würde, sieht sich getäuscht. Was die Regierung bisher an Plänen zur Revitalisierung der Wirtschaft beziehungsweise zur Konsolidierung des Staatshaushalts vorgelegt hat, ist weder durchdacht noch zukunftsweisend. (...) So muss befürchtet werden, dass sich die schleichende Transformation Deutschlands vom Musterknaben zum Sorgenkind Europas fortsetzen wird - zum Schaden aller Volkswirtschaften Europas."

Deutschland stehe unter Schock urteilte der Kommentator der britischen Wirtschaftszeitung FINANCIAL TIMES und schrieb:

"Deutschland hat es seit der Wiedervereinigung versäumt, den harten Fakten seiner wirtschaftlichen Zukunft ins Auge zu sehen. Der bemerkenswerte Wohlstand der Nachkriegsgeschichte hat zu Blindheit geführt. Aber noch schlimmer als die Fehler der Vergangenheit ist die Tatsache, dass auch heute noch kein Ausweg aus der Krise zu erkennen ist."

Der in London erscheinende GUARDIAN bemerkte:

"Deutschland sieht mehr und mehr wie Großbritannien vor 20 Jahren aus. Die Arbeitslosigkeit geht in Richtung 10 Prozent, die Steuern und Sozialbeiträge steigen, das Haushaltsdefizit wird die Maastricht- Grenzen überschreiten, der Arbeitsmarkt ist zu starr, und der Wirtschaft steht die zweite Rezession in kurzer Folge bevor. (...) Früher oder später müssen diese Probleme angegangen werden."

Nach Meinung der französischen Tageszeitung LE FIGARO sitzen Deutschland und Frankreich - in Bezug auf die Konjunkturentwicklung - in einem Boot:

"In der Stunde der Rezession müssen die zwei großen Länder Europas die Fehler der Vergangenheit büßen. Die regierenden Politiker in Frankreich dürfen sich mit der Höhe des deutschen Defizits trösten. Die Lage in Frankreich ist viel drängender. (...) Man muss einen weiteren Rückgang der Wettbewerbsfähigkeit französischer Unternehmen feststellen. Die Chance liegt darin, dass die beiden Pfeiler des Aufbaus Europas wieder einmal gemeinsame Interessen haben. Weder Deutschland noch Frankreich können die gegenwärtige Lage tolerieren."

Der französische Politikwissenschaftler Alfred Grosser kommentierte die Politik beider Regierungen in der in Rennes erscheinenden Zeitung OUEST-FRANCE so:

"Die Bundesregierung hat entschieden, Steuern und Sozialabgaben zu erhöhen. Dafür war sie bereit, Wahlversprechen zu brechen. Dies ist das Gegenteil der Politik von Premierminister Jean-Pierre Raffarin. (...) Deutschland ist kaum Schwierigkeiten gewöhnt. Nach den Wahlen sieht es sich mit den wahren Problemen konfrontiert, die zu einem großen Teil aus der allgemeinen Wirtschaftslage entstanden sind. Dieser Moment scheint in Frankreich noch nicht gekommen zu sein. Aber der Blick auf unseren wichtigsten Partner in Politik und Handel gestattet es, die künftigen Probleme vorwegzunehmen."

Die österreichische Tageszeitung DIE PRESSE zog folgendes Resümee:

"... der deutsche Michel sitzt nun da, ohne wirkliche Perspektive. Er muß sparen und zugleich den Konsum beleben. Seit der Wiedervereinigung noch mehr auf sich selbst konzentriert, ist er dazu verdammt, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen - und kommt mit wachsender Frustration drauf, daß ihm dabei zwar die Haare ausgehen, sich aber sonst wenig rührt. Mit zu hoher Währungsrelation und zu hohen Zinsen droht ihm zudem eine Deflationsspirale, wie sie etwa seit Jahren das einst so muntere Japan lähmt. Kein Wunder, daß (...) die Psyche der Unternehmer schwerer angeschlagen ist als anderswo, die Müdigkeit der Neuen Bundesländer sich ausbreitet, eine Pleitewelle das Land erfaßt hat und Gerüchte wie jenes von der Abwanderung des Siemens-Konzerns ernstgenommen werden. (...) Für die Österreicher ist das alles aber auch nicht sehr komisch, weil sie nämlich nur wenig besser dastehen. (...) Nicht einmal Schadenfreude ist angesagt - auch wenn Deutschland vielen als abschreckendes Beispiel sympathischer sein mag denn als leuchtendes Vorbild. Denn angesichts der Verflechtung der beiden Wirtschaftsräume kann auch bei uns die Erde ganz schön beben, wenn das Epizentrum in Berlin liegt."

Zum Schluss noch ein Zitat aus der russischen Tageszeitung NOWYJE ISWESTIJA. Sie befasste sich mit der Beschwerde der russischen Regierung beim Ersten Deutschen Fernsehen, einseitig über das Moskauer Geiseldrama berichtet zu haben:

"Man kann dem ersten Fernsehkanal in Deutschland nicht mangelnde Sympathie für Russland vorwerfen. Noch vor einem Jahr sah das auch Präsident Putin so, der der ARD in Sotschi ein langes Interview gab. Doch die Zeiten in Russland ändern sich, und der Kampf gegen abweichendes Denken fordert Opfer. Das gilt nicht nur für die einheimischen Medien, die unter dem schweren Stiefel des Kremls stehen. Die neuen Moskauer Zensoren sind auf den Geschmack gekommen und greifen auch die ausländischen Medien an. Die Geheimdienstler, die an die Macht gekommen sind, haben sich die alten sowjetischen Tricks des Unterdrückens und Abwürgens bewahrt."