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Internationale Pressestimmen der vergangenen Woche

Hans-Bernd Zirkel17. Dezember 2002

Türkei in die Europäische Union? - Kanzler vor Rücktritt?

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Zwei Themen beherrschten in der vergangenen Woche die Leitartikel der europäischen Tagespresse: die angebliche Rücktrittsdrohung von Bundeskanzler Gerhard Schröder und die Debatte um eine Aufnahme der Türkei in die Europäische Union.

Das Für und Wider in der Türkei-Frage spiegelte sich beispielsweise in Kommentaren der niederländischen Zeitung DE VOLKSKRANT und des LUXEMBURGER WORTS. Zunächst die VOLKSKRANT aus Den Haag:

"In dieser Zeit der Reibereien zwischen dem Westen und der islamischen Welt wäre es ein wichtiges Signal, wenn die EU ihre Pforten öffnete für ein gemäßigtes Moslem-Land und auf diese Weise das unselige Blockdenken durchbräche. Natürlich muss die Union an ihren Forderungen hinsichtlich Demokratie, ordentlicher Regierung und Rechtstaatlichkeit festhalten. Aber durch Festlegen strikter Normen und durch wirtschaftliche Hilfe kann die EU einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, dass sich die Türkei zu einer stabilen Moslem-Demokratie entwickelt, die als Vorbild für andere islamische Länder dienen kann. Das liegt im Interesse Europas. Der christliche Hintergrund Europas darf nicht angeführt werden, um diese Entwicklung zu blockieren."

Dagegen gab das LUXEMBURGER WORT zu bedenken:

"Wenn die Türkei EU-Mitglied werden kann, sobald sie die politischen Kriterien erfüllt, mit welchem Recht will man dann noch zweifellos europäischen Ländern wie Georgien, Moldawien, Ukraine, Armenien die Mitgliedschaft verweigern? Und was wird aus den Balkanländern, die nach den überstandenen Kriegen ebenfalls bald an die Pforten der EU klopfen werden, mit Verweis auf die Türkei? Eine Detailfrage: Sollen die Millionen Türken in den EU-Ländern bei Kommunal- und Europawahlen mitwählen können, die Millionen Serben und Kroaten jedoch nicht? Solche Beispiele zeigen, wie unausgegoren die Haltung der EU ist. Müsste die Europäische Union dann konsequenterweise nicht ebenso viele Mitgliedstaaten wie der Europarat (44) haben? Das wäre dann das von Giscard d´Estaing befürchtete Ende der EU!"

Die französische Tageszeitung LE FIGARO kritisierte die Einflussnahme der USA zugunsten der Türkei:

"Der amerikanische Präsident Bush hat (Frankreichs Präsident Jacques) Chirac und mehrere andere europäische Staatschefs angerufen, um für eine Aufnahme der Türkei in die EU zu plädieren. Dieser Druck ist eine Einmischung in innere Angelegenheiten und damit unerträglich. (...) Die Ereignisse des 11. September haben die Haltung der Amerikaner so sehr verhärtet, dass ihre Umgangsformen leiden. Was wäre wohl die Reaktion Washingtons, wenn ein europäischer Politiker Bush anriefe, um von ihm die Öffnung der Grenze zu Mexiko zu verlangen?"

So viel zur Türkei-Debatte. Die britische Zeitung THE GUARDIAN beschäftigte sich mit den angeblichen Rücktrittsdrohungen des Bundeskanzlers und schrieb:

"Ein belagerter Gerhard Schröder hat versucht, Gerüchte aus der Welt zu schaffen, wonach er kurz vor einem Rücktritt als deutscher Kanzler steht. 'Der Kanzler wird das Schiff nicht verlassen', erklärte Schröder - ein unglückliches Bild, das im Deutschen wie im Englischen an Ratten und Untergang denken lässt. Schröders Bemerkung über seine grundsätzliche Entbehrlichkeit deutet auf einen Mann hin, der entweder seine Gefolgsleute erschrecken und damit wieder auf Linie bringen will oder aber mit seinen Kräften bald am Ende ist. Schröders verdeckte Drohungen sind um so erstaunlicher, weil sie von einem Mann kommen, der bisher mit grimmiger Entschlossenheit an der Macht festgehalten hat. Wenn das Ganze nur ein Trick gewesen sein sollte, dann hat er nicht funktioniert."

'Schröder unter Feuer' titelte die Wirtschaftszeitung FINANCIAL TIMES aus London und stellte fest:

"Für einen Mann, der alles gegeben hat, um an der Macht zu bleiben, erscheint Gerhard Schröder seltsam zögerlich, diese Macht jetzt auch auszuüben. Die Partei und das Land sind zunehmend enttäuscht, und diese Woche drohte Schröder nun sogar mit seinem Rücktritt, was als letzter Versuch erscheint, die zersplitterten Sozialdemokraten noch einmal unter seiner Führung zu vereinen. Für deutsche Wähler muss die Botschaft verwirrend sein. Hat Schröder noch den Willen, die internen Schlachten zu schlagen oder gar die große Aufgabe
wirtschaftlicher Reformen zu meistern?"

Die Mailänder Zeitung CORRIERE DELLA SERA kommentierte:

"Reichlich unpopulär geworden und mit einem schweren Fall seiner Glaubwürdigkeit belastet, unsicher über den politischen Kurs und zudem noch zum vornehmlichen Ziel der Kabarettisten und Witzzeichner geworden, durchlebt der Kanzler zur Zeit wahrscheinlich die schwierigste Phase, seitdem er das Land regiert."

Die spanische Zeitung ABC sieht die derzeitige Situation der Bundesrepublik so:

"Die Wirtschaft in Deutschland will einfach nicht wachsen. Es herrscht Stagnation, und die Perspektiven werden immer düsterer. Deutschland weiß keine Antwort auf seine ökonomischen Probleme, zu denen vor allem die Integration der früheren DDR-Wirtschaft gehört. Die neue und alte Bundesregierung hat sich überraschend schnell zerschlissen. Wenige Wochen nach dem Amtsantritt wirkt sie verbraucht und unfähig, einen Aufschwung in die Wege zu leiten. Die Krise ist für das übrige Europa von entscheidender Bedeutung, denn Deutschland macht ein Drittel der Wirtschaftskraft der Europäischen Union aus."

Zum Schluss noch einmal der britische GUARDIAN, der auch auf Äußerungen des deutschen Botschafters in London einging. Nach dessen Ansicht lernen britische Schulkinder zwar viel über die deutsche Nazivergangenheit, aber kaum etwas über die demokratische Bundesrepublik. Dazu der GUARDIAN:

"Manchmal braucht man einen Ausländer, damit einem die Augen geöffnet werden. Deutschlands neuer Botschafter Thomas Matussek hat (Großbritannien) einen großen Dienst erwiesen, indem er gerade das getan hat. Es ist absolut jämmerlich, dass dieses Land noch mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine so gestrige Haltung zu Deutschland einnimmt. Wir sind unfähig, an Deutsche zu denken, ohne dabei den Krieg zu erwähnen, und blind für die Tatsache, dass dies weit mehr über uns Briten sagt als über die Deutschen. Die Wahrheit ist, dass Großbritannien, nicht Deutschland ein Gefangener seiner Vergangenheit ist. Und dabei geht es nicht nur darum, dass unsere Kinder kaum mehr über Deutschland lernen als die Geschichte des Dritten Reiches. Es geht auch darum, dass ein viel zu großer Teil der britischen Berichterstattung über Deutschland nur aus dem Blickwinkel der Jahre 1933-45 betrachtet wird."