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Hoffnung für Querschnittgelähmte?

24. September 2018

US-Forschern ist es gelungen, einen Querschnittgelähmten zum Gehen zu bringen. Das ist nicht alltagstauglich, aber eine Hoffnung für Menschen mit teilweisen Lähmungen, sagt Mediziner Norbert Weidner im DW-Interview.

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Schmerzmedizin Röntgenaufnahme eines Schmerzschrittmachers
So ähnlich wie bei diesem Schmerzschrittmacher werden die Elektroden am Rückenmark einoperiertBild: DW/F. Schmidt

Herr Weidner, Kollegen von Ihnen von der Mayo Klinik in Rochester im US-Bundesstaat Minnesota haben einen Querschnittgelähmten wieder zum Gehen gebracht. Das Team um Kendall Lee und Kristin Zhao implantierte dem Patienten Elektroden in der Nähe seines Rückenmarks. So bekam er Elektrostimulation. Dazu musste er fast ein Jahr lang intensiv trainieren. Dann konnte er 331 Schritte machen und dabei 102 Meter zurücklegen mit Rollator und Unterstützung durch einen Therapeuten. Was macht den Fall so besonders, den die amerikanischen Kollegen heute in einer Studie im Fachjournal "Nature Medicine"  veröffentlicht haben?

Prof. Dr. Norbert Weidner, Neurologe an der Uniklinik Heidelberg (Foto: Universitätsklinikum Heidelberg)
Der Arzt Dr. Weidner denkt, die Elektrostimulation dürfte vor allem Teilgelähmten helfenBild: Universitätsklinikum Heidelberg

Norbert Weidner: Der Patient hat eine komplette Querschnittlähmung. Das heißt, er hat keinerlei sensible und motorische Funktionen unterhalb des Brustmarks. Bei solchen Patienten ist normalerweise nicht zu erwarten, dass sie Jahre nach Eintreten der Querschnittlähmung wieder gezielt ihre Extremitäten ansteuern können oder sogar mit einer gezielten Ansteuerung wieder gehen können. 

Hier ist es aber zumindest ansatzweise gelungen. Wie häufig ist denn eine solche komplette Querschnittlähmung? 

Es gibt sehr viele Menschen mit einer Lähmung dieses Schweregrades. Bei diesem Patienten ist es so, dass er komplett gelähmt ist. Also wenn ich ihn untersuche und auffordere, seine Extremitäten zu bewegen, kann er das nicht. Würde man aber nach seinem Tode das Rückenmark mit dem Mikroskop untersuchen, könnte man mit großer Wahrscheinlichkeit noch Nervenbahnen finden, die die Läsionsstelle überbrücken, aber über die Jahre hinweg inaktiv waren.

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Und diese inaktiven Nervenbahnen versucht man zu aktivieren?

Die Bewegung wird neuro-anatomisch auf zwei Ebenen ermöglicht: Einerseits gibt es die Ansteuerung durch das Gehirn. Ich sage: Ich möchte meine Extremitäten bewegen. Dann muss diese Information auf die zweite Ebene kommen: Nervenzellen im unteren Rückenmark – etwa in Höhe der Lendenwirbelsäule – empfangen die Informationen aus dem Gehirn und übertragen sie in Richtung der Muskeln.

Bei der vorliegenden Studie haben die Kollegen versucht, beide Bereiche zu adressieren: Zum einen versuchten sie das Rückenmark auf Höhe der Lendenwirbelsäule wieder aufzuwecken, das über Jahre vom Gehirn nicht mehr eingebunden war. Das erfolgte mit der Elektrostimulation.

Das alleine reicht aber nicht, denn ich brauche einen willkürlichen Input. Der erfolgt durch die wenigen verbliebenen Nervenbahnen, von denen ich gesprochen habe. Die werden durch ein sehr intensives Rehabilitationstraining angeregt. In diesem Fall musste der Patient über 43 Wochen mehrere Stunden täglich trainieren: mit Last im Laufband, mit Therapeut, mit Rollator.

Er muss also die Verbindung herstellen zwischen Gehirnreiz und den Muskeln. Aber was macht die Elektrostimulation dabei eigentlich genau?

Bei der Elektrostimulation müssen Elektroden direkt auf die Rückenmarkshäute aufoperiert und Kabel nach draußen geführt werden. Ein Stimulator erzeugt dann Ströme, die die Nerven anregen.

Würde ich einen Patienten nun 43 Wochen trainieren ohne eine solche Stimulation durchzuführen, würde das wohl nicht funktionieren. Die Ansteuerung vom Gehirn würde auf ein schlafendes Rückenmark treffen, das nicht wach genug ist, um die Weiterleitung an die Muskeln zu ermöglichen. Die Elektrostimulation ermöglicht also, dass die Schaltstelle im Rückenmark wieder aufgeweckt wird. 

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Junger Mann im Rollstuhl mit Begleitung
Komplett Querschnittgelähmte werden weiterhin auf Hilfe angewiesen. Anderen kann die Elektrostimulation vielleicht helfen.Bild: Colourbox

Ist das eine ganz neue Methode, oder wurde das bei anderen Lähmungsproblematiken auch schon angewandt?

Die Methode ist schon relativ einzigartig und wird meines Wissens nach bei neurologischen Erkrankungen nur bei der Querschnittlähmung eingesetzt. In diesem Fall wurden die Elektroden invasiv direkt auf die Rückenmarkhaut [praktisch direkt aufs Rückenmark] gesetzt. Es gibt auch Arbeitsgruppen, die das nicht-invasiv machen. Sie kleben die Elektroden dann in diesem Bereich auf die Haut. Aber die Distanz zum Rückenmark ist dann weiter.

Es ist also nicht die erste Arbeit, die zeigt, dass man das Rückenmark so aufwecken und auch einzelne Muskeln ansteuern kann. Aber bisherige Studien konnten noch nicht zeigen, dass damit auch die Funktion – also das Gehen – zurückkommt. Das ist der Fortschritt dieser Arbeit. 

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Könnte das mal eine Lösung für die große Menge der querschnittgelähmten Patienten werden?

Bei einer kompletten Querschnittlähmung wird dieser kombinierte Ansatz alleine nicht ausreichen, um eine Gehfunktion wiederherzustellen, die für den Betroffenen alltagsrelevant ist. Es ist das eine, in einer künstlichen Umgebung, in der alle Bewegungsparameter konstant gehalten werden und Therapeuten zur Seite stehen, über einen eingeschränkten Aktionsradius wieder bedingt gehfähig zu sein. Das andere ist, diese Fähigkeiten in eine sehr viel weniger abwägbare Umgebung zuhause zu übertragen, wo ich Bodenunebenheiten habe und verschiedenste Hindernisse bewältigen muss. Das wird mit diesem Ansatz alleine bei komplett Querschnittgelähmten nicht möglich sein.

Aber es gibt auch viele Menschen, die eine inkomplette Querschnittlähmung haben, mit sensiblen und motorischen Restfunktionen unterhalb der Verletzung. Sie können die Beine ein bisschen bewegen und haben auch Berührungs-, Schmerz- und Temperaturempfinden in den gelähmten Extremitäten. Das ist dann gepaart mit mehr Nervenbahnen, die intakt geblieben sind. Da ist es eher realistisch, dass durch diesen Ansatz so viele Funktionen wiederhergestellt werden können, dass es auch für den Patienten alltagsrelevant ist. Es ist also ein spannender Ansatz.

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Man muss aber bedenken: Die Studie hat es jetzt nur an einem Patienten gezeigt. Inwieweit die inkomplett Querschnittgelähmten davon auch profitieren können, das muss man noch in einer entsprechenden Studie – hoffentlich dann auch an mehreren Patienten – zeigen. Solche Studien gibt es auch schon, aber sie laufen noch.

Die technische Umsetzung scheint dann aber doch nicht ganz ungewöhnlich: Es erinnert etwas an den Schmerzschrittmacher, der sich schon seit einigen Jahren zur Linderung der Symptome chronischer Bandscheibenvorfälle bewährt hat.

Mit Einschränkungen ist das sogar von der Hardware technisch identisch. Die Mediziner, die Elektrostimulation bei Querschnittgelähmten erproben, bedienen sich exakt solcher Schmerzschrittmacher von bekannten Herstellern. Der Unterschied ist, dass man die Elektroden an anderer Stelle anbringt und auch die Parameter, mit denen stimuliert wird, sind anders – etwa Intensität und Frequenz. Diese Parameter werden natürlich ganz speziell auf die jeweilige Anwendung angepasst.

Prof. Dr. Norbert Weidner ist ärztlicher Direktor der Klinik für Paraplegiologie am Universitätsklinikum Heidelberg.

Das Interview führte Fabian Schmidt.