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"Antisemitismus ist ein gesellschaftliches Problem"

Sabine Oelze
17. Mai 2021

2021 sollte eigentlich ein Jahr jüdischer Feste werden. Nun flammt der Antisemitismus in Deutschland wieder auf. Gefährdet der Nahost-Konflikt das Festjahr?

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Demonstranten gegen Antisemitismus mit Mundschutz
Demonstration gegen Antisemitismus vor der Synagoge in GelsenkirchenBild: Ina Fassbender/AFP

Seit 1700 Jahren leben Jüdinnen und Juden in Deutschland. Dieses wichtige Jubiläum wird 2021 bundesweit mit vielen Veranstaltungen, Workshops, Ausstellungen und Symposien gefeiert. Anlässlich der kriegerischen Auseinandersetzungen in Nahost und der Angriffe auf jüdische und israelische Symbole in Deutschland haben wir Andrei Kovacs, Geschäftsführer des Vereins JLID2021, gefragt, wie die aktuellen Vorfälle das Festjahr beeinträchtigen. Andrei Kovacs stammt aus einer jüdisch-ungarischen Familie. Die Großeltern des Musikers und Unternehmers überlebten das Budapester Ghetto und das Konzentrationslager Bergen-Belsen. Das Interview fand kurz vor dem Beginn der Schawuot-Feiertage statt, die vom 16. bis zum 18. Mai dauern.

Porträt von Andrei Kovacs im Anzug
Andrei Kovacs ist Vorsitzender des Vereins 1700 Jahre jüdisches Leben in KölnBild: Verein 321

DW: Sonntagabend hat das Schawuot-Fest begonnen. Was ist das für ein Fest?

Schawuot hat zwei Bedeutungen - eine naturbezogene und eine biblisch-historische. Schawuot ist ein Erntedankfest, an dem wir an die erste Weizenernte in Israel gedenken. Vor allem aber feiern wir zu Schawuot die Gabe der Tora und der zehn Gebote am Berg Sinai an das Israelitische Volk. Während Schawuot trinken wir traditionell viel Milch und essen süße und milchige Speisen und Honig. Es ist Brauch, die erste Nacht von Schawuot wachzubleiben und die Tora zu studieren. In vielen Gemeinden finden die ganze Nacht Lesungen und Diskussionen statt. Man könnte sagen, Schawuot ist die "White Night of the Tora" (Anm. der Red: Man bleibt die ganze Nacht wach).

Ist die Feierlaune angesichts der Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern und Israeli beeinträchtigt?

Natürlich ist unsere Feierlaune getrübt. Viele haben Familienangehörige, die in Israel leben - Eltern, Kinder, Geschwister, die derzeit schlaflose Nächte in Luftschutzbunkern verbringen. Währenddessen werden hier in Deutschland Synagogen angegriffen und auf den Straßen antisemitische Parolen geschrien.

Wieso ist der Konflikt gerade jetzt wieder so extrem aufgeflammt - welche Ursachen sehen Sie?

Die Situation in Israel ist sehr kompliziert. Die Unruhen in Ost-Jerusalem hat die Terror-Miliz Hamas für sich ausgenutzt und die Zivilbevölkerung in Israel mit mittlerweile über 2600 Raketen angegriffen. Das ist wie ein groß angelegter Terroranschlag - mit dem Ziel, so viele Menschen wie nur möglich zu töten. Zu diesen Menschen zählen übrigens auch über 20 Prozent Israeli mit arabischer Abstammung. Gegen diesen großen Terroranschlag muss sich Israel wehren.

Dass man jüdisches Leben ausgerechnet in diesem Jahr auch in Deutschland noch stärker als zuvor schützen muss, was löst das bei Ihnen aus?

"Free Palästina"-Demonstration am 11. Mai 2021 in München
"Free Palästina"-Demonstration am 11. Mai 2021 in MünchenBild: Sachelle Babbar/ZUMA Wire/picture alliance

Was wir diese Tage erleben, gehört leider zu einem immer wiederkehrenden Muster. Das Leben mit antisemitisch motivierter Israelfeindlichkeit gehört leider zur Alltagsnormalität deutscher Juden. Sie wurde seit vielen Jahren von zahlreichen Menschen und Organisationen geduldet und oft sogar unterstützt. Sobald Israel gezwungen ist, seine Existenz zu verteidigen, brechen diese Formen des Antisemitismus wieder auf.

Es ist schon verwunderlich, dass viele Menschen nur 76 Jahre nach der Shoah kein Verständnis dafür haben, dass der jüdische Staat eine Bedrohung seiner Existenz nicht wehrlos hinnehmen kann.

Sie wollten das jüdische Festjahr möglichst offen begehen. Wie beeinflussen die neuesten Ereignisse Ihr Programm?

Natürlich haben die Ereignisse Auswirkungen auf uns. Die antisemitischen Angriffe der letzten Tage haben noch einmal deutlich vor Augen geführt, wie fragil jüdisches Leben in Deutschland ist - und wie Ressentiments für politische Zwecke missbraucht werden können.

Das Festjahr war und ist als gesamtgesellschaftliches Ereignis angelegt. Es lebt davon, dass Menschen aus vielen gesellschaftlichen Milieus mitmachen und zahlreiche und vielfältige Begegnungsveranstaltungen stattfinden. Gerade in diesen Zeiten ist es wichtig, gesellschaftliche Solidarität zu zeigen. Ich bin davon überzeugt, dass unsere Projektpartner sich von den Ereignissen nicht beirren lassen, sondern das Festjahr noch stärker nutzen werden, für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus in Deutschland einzustehen.

Wie könnte im Festjahr der Nahost-Konflikt thematisiert werden?

Der Nahost-Konflikt wird immer schnell herangezogen, wenn über jüdisches Leben in Deutschland gesprochen wird. Aber er hat hier eigentlich nichts zu suchen. Stereotypen und Verschwörungsmythen sind Teil des Gedankenguts vieler Menschen in Deutschland. Es gab sie, wie wir wissen, bereits lange vor der Staatsgründung Israels im Jahre 1948. Antisemitismus ist ein gesellschaftliches, kein politisches Problem.

Wie fühlt sich in Deutschland das Nebeneinander von muslimischen Palästinensern und hier lebenden Juden an?

Wenn man die Bilder aus Gelsenkirchen und anderen Städten Deutschlands sieht, fühlt es sich leider nicht wie ein respektvolles Nebeneinander an. Aber aus persönlicher Erfahrung kann ich sagen, dass die meisten Menschen, egal welcher Herkunft, differenziert denken können. Wir haben in Deutschland mehr gemeinsam, als uns unterscheidet. Ich hoffe, dass es gelingen kann, sich in Zukunft besser zu verstehen und kennenzulernen. 

Warum wird der Konflikt ausgerechnet hier weiter fortgetragen? Was ist in Deutschland bei der Integration vielleicht schief gegangen?

Ein Baum ist in der Nähe des Felsendoms auf dem Tempelberg  in Flammen aufgegangen.
Am 10. Mai eskalierte der Konflikt am Tempelberg in JerusalemBild: Claire Gounon/AFP

Der Konflikt wird weltweit fortgetragen, Deutschland ist da keine Ausnahme. Ich denke, dass man in Sachen Integration immer mehr machen kann. Viele Familien kommen als Flüchtlinge aus radikalisierten Ländern, in denen der Antisemitismus sehr stark gelebt und politisch instrumentalisiert wird, nach Deutschland. Natürlich ist es schwer, aus diesen Denkmustern auszubrechen. Demokratie und Pluralismus müssen noch erlernt werden. Das ist eine große Aufgabe, die ihre Zeit braucht und bisher vielleicht von vielen in Deutschland unterschätzt wurde.

Was könnte über ein Festjahr hinaus von der Bundesregierung unternommen werden, um das Zusammenleben zu verbessern? Welche Wünsche hätten Sie?

Wir erfahren im Rahmen des Festjahres eine überwältigende Unterstützung von Projektpartnern, Politik, Kirchen und der Zivilgesellschaft. Das zeigt mir, dass es einen Bedarf an Initiativen gibt, die Begegnungen und das Kennenlernen ermöglichen. Das unverzerrte Sicht- und Erlebbarmachen jüdischen Lebens als Instrument im Kampf gegen Antisemitismus sollte mit dem Festjahr nicht aufhören, sondern beginnen.

Über 20 Prozent der Deutschen haben mittlerweile einen Migrationshintergrund, Tendenz steigend. Vielleicht ist das Festjahr eine Vorlage, wie auch anderen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland die Möglichkeit gegeben werden kann, ihre Kultur nahbar zu machen und damit zu zeigen, dass sie ein fester Bestandteil einer pluralen Gesellschaft sind und sein wollen. Ich kann mir nur wünschen, dass die Bundesregierung solche Projekte auch in Zukunft weiter unterstützt.

Das Interview führte Sabine Oelze

Sabine Oelze Redakteurin und Autorin in der Kulturredaktion