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Geld gegen Kinderarmut verzinst sich gut

7. November 2011

Katharina Spieß ist Professorin für Familien- und Bildungsökonomie an der Freien Universität Berlin und zuständig für Bildung beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Sie fordert Investitionen gegen Kinderarmut.

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Katharina Spieß, Professorin für Familien- und Bildungsökonomie (Foto: Spieß)
Prof. Katharina SpießBild: Katharina Spieß

DW-WORLD.DE: Frau Prof. Spieß, wie hoch ist die Kinderarmut in Deutschland?

Katharina Spieß: Kinderarmut in Deutschland hat zugenommen, wenn wir den Zeitraum der letzten zehn Jahre betrachten. Die Kinderarmut ist besonders hoch bei alleinerziehenden Familien. Da haben wir im Jahr 2008 z.B. bei Alleinerziehenden, die ein Kind unter drei Jahren haben, eine Armutsrisikoquote von nahezu 55 Prozent. Dagegen sind Familien mit sogenannten Paar-Eltern sehr viel weniger von Armut betroffen. Da beträgt die Armutsrisikoquote im Vergleich "nur" 15 Prozent. Also es gibt eine große Bandbreite. Die wirklich schwierige Gruppe, die von einem großen Armutsrisiko betroffen ist, sind Alleinerziehende.

Was kostet Kinderarmut die Gesellschaft?

Die kostet die Gesellschaft eine ganze Menge. Wenn Sie einmal daran denken, dass diese Familien teilweise Hartz IV-Empfänger sind, das sind direkte Kosten. Aber es gibt auch sehr sehr viele indirekte Kosten, weil wir wissen, dass manche Kinder, die in Armut aufwachsen, in Bildungsbereichen nicht so gut abschneiden können wie andere Kinder, weil materielle Ressourcen oder auch andere Unterstützungsleistungen fehlen. Damit kostet es die Gesellschaft, die Volkswirtschaft, langfristig auch sehr viel, weil wir das Humanvermögen dieser Kinder nicht optimal nutzen können.

Was genau meinen Sie mit "Humanvermögen"?

Mit der Forderung, in das Humanvermögen mehr zu investieren, meine ich, dass grundsätzlich jedes Kind in unserer Gesellschaft auch ein wichtiger Faktor für die Volkswirtschaft ist. Wenn wir z.B. von einem Fachkräftemangel sprechen, wenn wir davon sprechen, dass wir rückläufige Zahlen bei den Erwerbspersonen haben, dann brauchen wir allein aus dieser Perspektive alle Personen - und wir brauchen insbesondere gut ausgebildete Personen. Wenn wir Kindern diese Chance für eine gute Bildung und für eine gute Ausbildung verwehren oder wenn wir sie nur suboptimal erreichen können, dann verschwenden wir tatsächlich Humanressourcen.

Viele Politiker sagen, wir haben im Moment einfach nicht genug Geld, um in die Förderung benachteiligter Kinder zu investieren. Ist das eine vernünftige Argumentation?

Nein, das ist aus meiner Sicht keine vernünftige Argumentation, weil die nur sehr kurzfristig zieht. Wir müssen mittel- und langfristig denken. Aber wir müssen benachteiligte Kinder natürlich auch fördern, weil wir Chancengerechtigkeit schaffen wollen.

Kinderförderung kostet erst einmal Geld, welche möglichen Erträge stehen dem denn entgegen?

Wir wissen aus primär angloamerikanischen Studien, dass insbesondere Kinder aus benachteiligten Familien von wirklich pädagogisch guten Programmen, die durchaus teuer sind, sehr profitieren. Die berühmteste Studie in den USA, das Perry Preschool Projekt, läuft seit über 40 Jahren. Dort wurden 123 Kinder dahingehend beobachtet, dass man einmal eine Gruppe hatte, die eine extrem gute frühkindliche Bildung und Betreuung erfahren hat und eine Kontrollgruppe, die dies nicht hatte. Man kann beobachten, dass Kinder nach 40 Jahren tatsächlich höhere Einkommen erzielen, wenn sie in dieser pädagogisch guten Betreuung waren, dass diese Kinder eine geringere Fürsorgeabhängigkeit haben, dass diese Kinder eine geringere Rate der Straffälligkeit haben und dass diese Kinder auch gesundheitlich besser abschneiden. Alles dies sind mittel- bis langfristige Effekte, wo man weiß, dass sich frühkindliche Investitionen in eine gute pädagogische Betreuungs- und Bildungsqualität tatsächlich lohnen, gerade bei Kindern aus benachteiligten, sozioökonomisch schlechter gestellten Familien.

Wie hoch "verzinst" sich denn das Geld, das man in die Förderung benachteiligter Kinder investiert?

Wenn es sich um ein pädagogisch wirklich gutes Programm handelt, was auch wirklich auf diese Kinder hin ausgerichtet ist, lohnt es sich in jedem Falle. Es gibt ganz unterschiedliche Rechnungen, je nach Programm. Es gibt Schätzungen, dass wir eine Kosten-Nutzen-Relation von 1 zu 2 haben, oder auch von 1 zu 10 bis 1 zu 17, das ist das oberste Niveau. Fakt ist, dass tatsächlich alle Kosten-Nutzen-Analysen darauf hinweisen, dass der Nutzen bei weitem die Kosten überschreitet. Allerdings immer nur dann, wenn wir auch eine mittel- bis langfristige Perspektive anstellen. Was Studien teilweise nicht machen, was wir aber auch mit hinzuziehen müssen, ist, dass diese Betreuungseinrichtungen natürlich nicht nur für die Kinder von hohem Wert sind, sondern häufig auch beiden Elternteilen eine Erwerbstätigkeit ermöglichen. Darüber erzielen wir durchaus auch kurzfristige Effekte: Nämlich dass diese Eltern tatsächlich ein höheres Erwerbseinkommen erzielen können als ohne diese Bildungs- und Betreuungseinrichtungen.

Da versteht man nicht, warum nicht viel mehr in diesen Bereich investiert wird. Wie erklären Sie sich das?

Ich denke, das liegt daran, dass die Erträge kurzfristig noch nicht so hoch sind. Wie wir alle wissen, sind die politischen Wahlzyklen relativ kurz. Für einen Kämmerer, der in einem Vier- oder Fünf-Jahres-Rhythmus denkt, oder auch für andere politische Akteure sind es Renditen, die erst langfristig einzufahren sind. Und dieses ist immer etwas schwieriger, als wenn sie sofort ihren Nutzen realisieren können.

Inwiefern sollte denn auch die Wirtschaft an der Bekämpfung der Kinderarmut interessiert sein?

Die Wirtschaft sollte mit daran interessiert sein, da auch die Wirtschaft ein Interesse hat, gute Arbeitnehmer zu gewinnen. Vor dem Hintergrund der zurückgehenden Erwerbspersonenpotentiale sollte auch die Wirtschaft Interesse daran haben, jedes, aber auch wirklich jedes Kind in unserer Gesellschaft nicht zurückzulassen, sondern alle zu fördern, damit man auf gut ausgebildete Erwerbspersonen zurückgreifen kann.

Das Interview führte Andrea Grunau.
Redaktion: Hartmut Lüning