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Musik

Irak: Musik als Selbstheilungsprozess

Rick Fulker
20. März 2017

Im Buch "Bis der letzte Ton verklingt", das jetzt auf Deutsch erscheint, schreibt Paul MacAlindin über das Youth Orchestra of Iraq". Im DW-Gespräch erklärt er die Auswirkungen der Musik auf den Geist und auf die Politik.

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Dirigent Paul MacAlindin
Bild: sandstonepress

Das "National Youth Orchestra of Iraq" (NYOI) war die wohl unwahrscheinlichste Orchestergründung unserer Zeit. Von der jungen irakischen Pianistin Zuhal Sultan initiiert, existierte der Klangkörper von 2009 bis 2014. In einem Orchester spielten junge Iraker zusammen - Kurden und Araber, Schiiten und Sunniten - über kulturelle, religiöse und sprachliche Barrieren hinweg und beängstigenden logistischen Herausforderungen zum Trotz. Der schottische Dirigent Paul MacAlindin war entscheidender Motor bei der Organisation. Er führte das Orchester auf Auslandstourneen - auch nach Deutschland, wo es im Herbst 2011 beim Orchester Campus der DW und des Beethovenfests Bonn auftrat.

In "Bis der letzte Ton verklingt" hält Paul MacAlindin seine Erinnerungen an das irakische Jugendorchester fest - detailreich und voller Einblicke in das Land, seine Menschen und ihren widerstandsfähigen Geist.  

Das Buch, das im vergangenen August in Großbritannien und den USA unter dem Titel "Upbeat" herausgegeben wurde, erfuhr ein starkes Presseecho. Am 20. März erscheint es nun in deutscher Übersetzung beim Verlag Heyne Encore.

Deutsche Welle: Die Gründung des "National Youth Orchestra of Iraq" wurde mit Begriffen wie "verrückt" und "heroisch" umschrieben. Wie war die Einstellung in der Bevölkerung damals zu westlicher klassischer Musik? Wurde sie als "Teufelswerk" verurteilt?

Paul MacAlindin: Durch den starken religiösen Einfluss in der irakischen Regierung nach der Gründung des Parlaments im Jahr 2006 wurde Musik, die nicht mit strikten religiösen Regeln konform war, für verboten erklärt.

Zuhal Sultan. Foto: http://friends-nyoi.com/index-Dateien/presse_fotos.htm
Zuhal Sultan, Gründerin des NYOI, war damals eine 17-jährige PianistinBild: NYOI

Fürchteten manche Musiker sogar um ihr Leben?

Bei dem Niveau an militärischer und religiös bedingter Gewalt um 2006, 2007 und 2008 fürchtete jeder in Bagdad um sein Leben. Abgesehen von den üblichen Schwierigkeiten, sich in der Stadt überhaupt fortzubewegen, mussten unsere Musiker oft ihre Instrumente verstecken.

Wurde die Fragmentierung der Gesellschaft in der Zeit nach Saddam Hussein auch im Orchester gespiegelt, etwa in Konflikten zwischen Arabern und Kurden oder zwischen Sunniten und Schiiten?

Die deutlichste Kluft war zwischen den Kurden und den Arabern. Aber die, die Englisch als gemeinsame Sprache hatten, haben sich gut verstanden. Die anderen Probleme waren weniger gravierend. Es geht hier um normale Bürger, die einfach nur ein normales Leben führen wollen. Der religiöse Faktor wird von den westlichen Medien aufgebauscht. Er entstand durch die Art und Weise, wie die irakische Regierung im Jahr 2006 gebildet wurde.

Sie gingen 2011 mit dem Orchester auf Deutschlandtournee und sind beim Beethovenfest Bonn aufgetreten. Welche Rolle hat die Deutsche Welle dabei gespielt?

Die DW spielte drei wesentliche Rollen. Sie vergab Kompositionsaufträge für unsere Konzerte: eine mit kurdischer und eine mit arabisch-irakischer Musik. So spielten unsere Auftritte auch eine kulturelle und diplomatische Rolle. Zweitens: Sie vermittelte an diplomatischen Schaltstellen, um den Komponisten die Reise nach Deutschland zu ermöglichen. Drittens, und nicht zuletzt: Berichte durch die DW waren für uns lebensnotwendige Publicity.

Paul MacAlindin mit Erik Bettermann und Christian Wulff. Foto: Barbara Frommann
Paul MacAlindin mit dem damaligen DW-Intendanten Erik Bettermann und dem damaligen Bundespräsidenten Christian WulffBild: Barbara Frommann

Oft hört man Sachen wie: "Musik überwindet Grenzen, führt Menschen zusammen und fördert kulturelle und internationale Verständigung." Diese klingen wie Allgemeinplätze, dennoch scheinen sie zumindest teilweise im Falle des NYOI zu stimmen.

Alle Menschen sind musikalisch. So kann Musik ein mächtiges und effektives Mittel sein, um Menschen zusammenzubringen. Im richtigen Kontext kann sie eine wichtige Rolle spielen. Aber der Kontext ist manchmal fragil und kann auseinander fallen, so wie es hier der Fall war.

Erzählen Sie uns vielleicht mal eine kurze Geschichte, um zu verdeutlichen, wie einzigartig dieses Unterfangen war...

Einen sehr aufschlussreichen Moment hatte ich im ersten Jahr, als ich die Sinfonie Nr. 99 von Joseph Haydn in unserem klaustrophobischen Proberaum dirigierte. Plötzlich ging der Strom aus, und ich hörte auf. Aber obwohl die Musiker ihre Partituren nicht mehr sehen konnten, spielten sie weiter bis zum Schluss. Ich erfuhr dann, dass es für irakische Musiker völlig normal ist, die Noten auswendig zu lernen, bevor sie auftreten oder zur Probe gehen - weil Stromausfälle dort gang und gäbe sind.

Der andere Aspekt ist allgemeiner: Die jungen Menschen, die ich im Irak traf, waren so nett, so wohl erzogen und so normal. Und das war das Unnormalste an ihnen! Ihre Kindheiten und ihre Gemeinwesen sind zerstört worden, und jeder Einzelne von ihnen hatte Freunde oder Familienangehörige durch Gewalt verloren. Ich sah zu, wie Musik diese jungen Leute zusammenschweißte und wusste, dass sie nach Ende des Kurses wieder zu der gefährlichen Ausnahmesituation zurückkehren würden - eine Anomalität, die für sie völlig normal war. Das zu verarbeiten, fand ich sehr schwierig.

Abgesehen von sprachlichen und logistischen Herausforderungen schreiben Sie, dass ein Faktor noch schwerwiegender war: eine gewisse Kälte oder felhlende Emotionalität in ihrem Spiel. Können Sie uns das näher erklären?

Auch wenn manche Musiker technisch kompetent waren, waren sie emotional erschöpft, innerlich anteilslos. Musikalische, spirituelle und seelische Lösungen für diese Menschen zu finden war eine große Aufgabe. Also wählte ich Musik von Haydn und Beethoven, weil sie solch freudige und energische Musik schrieben, die geeignet war, die Geister dieser jungen Leute zum Leben zu erwecken und ihnen zum ersten Mal nach Jahren wieder Freude zu geben. Und über fünf Jahre hinweg konnten sie ihre Musik allmählich doch wieder mit Gefühl spielen. Das Orchester war selbstheilend.

Das National Youth Orchestra of Iraq
Zum NYOI gab es ein großes PresseechoBild: sandstonepress

Hatte das Jugendorchester einen Einfluss auf internationale Beziehungen?

Ich glaube, dass der stärkste Einfluss der auf die irakische Regierung selbst war. Regierungsvertreter mussten zu den Konzerten gehen - auch wenn sie sich mit Händen und Füßen dagegen wehrten. Sie mussten dann erkennen: Wenn man jungen Leuten im Irak nur eine winzige Chance gibt, dann können sie alle von den Politikern selbst erschaffenen Probleme überwinden. Menschen, die gegen die Existenz des Orchesters waren, mussten erkennen, dass unter den richtigen Voraussetzungen die irakische Jugend eine großartige Zukunft haben kann.

Haben Sie noch Kontakt mit ehemaligen Orchestermitgliedern, die heute wohl unter sehr schwierigen Bedingungen leben?

Ja. Ab und zu taucht jemand auf Facebook auf. Einige haben das Land verlassen, suchen Asyl oder studieren im Ausland. Andere spielen weiterhin im Irak.

Sie hatten sich von vornherein entschlossen, mit dem Orchester nur für eine begrenzte Zeit zusammenzuarbeiten. Es wurde dann vorzeitig aufgelöst, und zwar unter Umständen, die Sie selbst nicht ausgesucht haben: 2014 scheiterte eine geplante Tournee in den USA aufgrund bürokratischer Hindernisse - und dann kam der Überfall des sogenannten "Islamischen Staats" auf den Irak. Nach all den ermutigenden Momenten, die Sie beschrieben haben: Was sind ihre Gefühle jetzt, nach der Auflösung des Orchesters?

In den letzten zwei Jahren war ich oft verzweifelt. Dieses Buch zu schreiben hat mir aber geholfen, alles aus einer neuen Perspektive zu sehen. Ich kann nun mit dem Kapitel abschließen und weitermachen.

Was haben Sie vom NYOI gelernt?

Ich habe meine eigenen Grenzen kennengelernt - und dadurch erfahren, dass mein Durchhaltevermögen und meine Möglichkeiten viel größer sind, als ich bis dahin dachte.

Buchcover - Bis der letzte Ton verklingt von Paul MacAlindin
Das Buch erscheint jetzt in deutscher ÜbersetzungBild: Heyne Verlag

Ist ein irakisches nationales Jugendorchester vorstellbar unter den Bedingungen, die heute im Land vorherrschen?

Ja. Der Irak ist wie ein Phoenix, er ersteht aus der Asche immer wieder neu und blüht für kurze Zeit, bevor er wieder vom Krieg zerstört wird. Iraker sind unglaublich innovativ und finden für fast alles eine Lösung. Durch die Verbindungen, die zwischen diesen jungen Menschen und klassischen Musikern weltweit aufgebaut wurden, werden neue Projekte entstehen. Das Orchester hat jetzt seine eigene Nicht-Regierungsorganisation in Bagdad. Der nächste Schritt hängt von der Motivation des Teams im Irak und seinen Unterstützern in Deutschland ab.

Und das Schöne an klassischer Musik ist: Man muss nichts einstöpseln, man setzt sich einfach hin und spielt. Boy-Bands und Rockbands im Irak haben diesen Vorteil nicht.

Mit Paul MacAlindin sprach Rick Fulker.