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Politik

Iran: Virus und Glaube

17. April 2020

Der Umgang der iranischen Regierung mit der Pandemie ist widersprüchlich. Die Äußerungen der Mullahs sind religiös gefärbt, ihre Entscheidungen jedoch oftmals pragmatisch. Das verunsichert viele Gläubige.

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Covid-19 Iran Krankenhaus in Shoppingcenter
Bild: picture-alliance/dpa/R. Fouladi

Über 76.000 Infizierte und fast 4800 Tote laut Johns Hopkins Universität (Stand 16.4.): Nach wie vor gehört der Iran zu den zehn am stärksten von der Corona-Pandemie betroffenen Staaten. Mitte der Woche löste eine Warnung des wissenschaftlichen Dienstes des iranischen Parlaments weitere Sorgen aus: Würden die Isolationsmaßnahmen nicht umgesetzt, könnten sich bis zu 75 Prozent der Iraner mit dem Coronavirus infizieren. Bis zu 30.000 Menschen könnten in diesem Fall sterben. Erfolgten die Maßnahmen aber, ließe sich die Zahl der Todesfälle auf bis zu 6000 deutlich reduzieren.

Seit Wochen versuchen Staat und Bevölkerung, das Virus einzuhegen. Diese Anstrengungen werden vor allem mit medizinischen Mitteln geführt. Allerdings mischten sich gerade während der ersten Wochen auch religiöse Motive in den Kampf gegen den Krankheitserreger.

Beerdigung von Coronatoten im Iran
Beerdigung der Corona-Toten im IranBild: yjc

So erklärte das religiöse Oberhaupt des Iran, Ali Khamenei, in seiner Predigt zum iranischen Neujahrsfest am 22. März, für den Ausbruch der Pandemie seien neben "menschlichen Feinden" auch "böse Geister" (Dschinns) verantwortlich. "Wir haben die Kräfte der Dschinns und der Menschen, die zusammenarbeiten", erklärte er.

Pragmatische Maßnahmen

Ungeachtet solcher Aussagen ließ sich die Regierung in ihren Maßnahmen gegen das Virus dann aber von pragmatischen Überlegungen leiten, und zwar in aller Entschlossenheit. Auf die religiösen Befindlichkeiten der Bürger nahm sie dabei nur wenig Rücksicht.

So kündigten die Behörden am 16. März an, sie würden den Schrein des achten Imams Reza in der Stadt Mashhad sowie den seiner Schwester, Fatimah bint Musa, in der Pilgerstadt Ghom schließen, um so die Ausbreitung von COVID-19 zu unterbinden. Die heilige Pilgerstadt Ghom war einer der ersten Orte, an denen die Epidemie im Iran ausbrach. Bis heute ist sie eines ihrer Zentren. Auch etliche Geistliche infizierten sich dort.

Kurz nach der Ankündigung versammelten sich wütende Demonstranten vor den beiden Heiligstätten und versuchten, die Tore zu den Gebäuden zu durchbrechen. Im Handumdrehen verbreiteten sich Aufnahmen dieser und ähnlicher Aktionen in den sozialen Netzwerken.

Die Aktionen dieser Fanatiker - ihre Zahl gilt als überschaubar - stießen umgehend auf Kritik. Die Angriffe seien der Inbegriff "heiliger Ignoranz", erklärte etwa der moderate Abgeordnete Ahmad Mazani, der selbst klerikalen Kreisen angehört.

Iran Coronavirus Fatima Masumeh Schrein
Fanatiker wollen am 16. März den geschlossenen Schrein Fatimah bint Musa stürmenBild: Getty Images/AFP/M. Marizad

Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Religion

Die Maßnahmen erweckten zunächst den Eindruck, als befinde sich die Religion durch das Coronavirus auf der Anklagebank, sagt Gul Jammas, politischer Analyst und TV-Journalist in Teheran, im Gespräch mit der DW. Die meisten Gläubigen hätten nur widerwillig akzeptiert, von einem grippeähnlichen Virus davon abgehalten zu werden, religiöse Stätten - Moscheen und Heiligtümer - zu besuchen. "Diese Stätten gelten geistig wie physisch als Schutz gegen Krankheiten, und nicht als Orte, an denen diese verbreitet werden." Die Entscheidung zur Absperrung sei auch der Regierung nicht leicht gefallen.

Allerdings seien die meisten Iraner moderate Muslime. "Sie verstehen, dass Religion und Wissenschaft verschiedene Sphären sind. Darum stehen sie aus ihrer Sicht auch nicht unbedingt im Widerspruch zueinander. Sie können nebeneinander existieren. Wie wir uns geistig und körperlich gesund halten, diese Frage sollte von beiden Instanzen geklärt werden", so Jammas.

17.10.2013 DW Quadriga Studiogast Azadeh Zamirirad
SWP-Expertin Azadeh Zamirirad

Anders sieht es die Iran-Expertin Azadeh Zamirirad vom Berliner Think Tank "Stiftung Wissenschaft und Politik"(SWP). Die Corona-Krise versetze den theokratischen Staat in eine ungewohnte und missliche Lage, schreibt Zamirirdad auf der SWP-Homepage.Der Staat müsse nicht nur religiöse Rituale aussetzen, die wesentlich für sein politisches Selbstverständnis sind, sondern Gläubige aktiv davon abhalten, diese Rituale auszuüben. In der Krise stelle die Regierung die Religion vorerst zurück, und das mit Zuspruch des Revolutionsführers, der höchsten religiösen Instanz im Staat. 

Dieser Entschluss wirke weit in die Öffentlichkeit hinein: "Die Schließung von Schreinen, die über Jahrhunderte als Orte der Immunität und Heilung galten, kommt einer Entmystifizierung schiitischer Glaubensauffassungen gleich", so Zamirirdad.

Die psychologische Erschütterung, die die Schließung der heiligen Stätte bedeutete, versuchte die Regierung rhetorisch abzufangen, sagt Gul Jammas. Um die Gläubigen dahin zu bringen, alles nur Denkbare zu tun, um Infektionen zu vermeiden, habe sie zu einer außergewöhnlichen Erklärung gegriffen. "Die Führung erklärte, es handele sich nicht um ein gewöhnliches Virus. Es könnte sich auch um eine biologische Waffe handeln, die von internationalen Imperialisten und Hegemonisten - gemeint waren die USA - verbreitet wurden, um Iran und China anzugreifen. Daraufhin nahmen die meisten Menschen die Anweisungen der Regierung ernster als zuvor", so Jammas.

Iran Teheran Coronavirus
Bäker in der Hauptstadt TeheranBild: picture-alliance/Photoshot/A. Halabisaz

Auftrieb für Säkularismus?

Seit Monaten sieht sich die Regierung kräftigem Gegenwind gegenüber. Aufgebracht durch die Auswirkungen der Wirtschaftskrise stellten viele Demonstranten das von der Regierung propagierte Wachstum im Herbst zunächst infrage. Nach dem versehentlichen Abschuss einer ukrainischen Passagiermaschine Anfang Januar geriet die Regierung aufgrund ihrer schleppenden Informationsstrategie dann auch politisch unter Druck. Vor dem Hintergrund der Corona-Krise gewinne die Idee des Säkularismus nun neuen Auftrieb, schreibt Azadeh Zamirirad von der SWP.

Eine Trennung von politischer und religiöser Sphäre stehe im fundamentalen Widerspruch zur Ordnungskonzept der Islamischen Republik, die säkulare Bestrebungen kategorisch zurückweist. "Doch mit der aktuellen Krise wird auch die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Staat unweigerlich neu aufgeworfen, mit der sich iranische Philosophen, Soziologen und Geistliche nicht erst seit Gründung der Islamischen Republik beschäftigen", so Zamirirad. 

Und doch sähen viele Iraner die Religion weiterhin als Schutz gegen das Virus an, sagt Gul Jammas. So praktizierten sie islamische Reinlichkeitsrituale und beten derzeit öfters als üblich. Beides helfe ihnen, die Krise körperlich und seelisch zu überstehen. Auch hielten sie sich an auf den islamischen Religionsstifter Mohammed zurückgehende Verhaltensweisen im Fall von Pandemien, so etwas das Abstandsgebot. "All dies hat den Menschen - insbesondere den Gläubigen - dabei geholfen, der Ansteckung effizienter entgegenzuarbeiten."

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika