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Ischinger: Große Sorgen um Westbalkan

Adelheid Feilcke15. Juni 2016

Die EU habe in letzter Zeit zu wenig auf die Entwicklungen auf dem Westbalkan geachtet, kritisiert der Diplomat Wolfgang Ischinger im DW-Interview. Er hat konkrete Verbesserungsvorschläge.

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GMF 03 Selective truth: Wolfgang Ischinger
Wolfgang Ischinger auf dem Deutsche Welle Global Media ForumBild: DW/K. Danetzki

DW: Nach den hoffnungsvollen ersten zwei Jahrzehnten der jungen Demokratien in Ost- und Südosteuropas gibt es in letzter Zeit eine gegenteilige Tendenz: Erstarkenden Nationalismus, Einschränkungen der Presse, autoritärere Regierungen. Gibt es da ein Muster?

Wolfgang Ischinger: Zunächst einmal denke ich, dass es da relativ viel Schatten gibt. Aber es gibt ja auch ein paar Lichtblicke: Die Entwicklung beispielsweise in Serbien war in den letzten Jahren im Großen und Ganzen recht erfreulich. Dass die serbische Politik es unter der Führung von Aleksander Vucic geschafft hat, von klassischer anti-albanischer, anti-Kosovo-Rhetorik im Wesentlichen Abstand zu nehmen und eine Hand auszustrecken, ist doch, wenn man sich die letzten 15 Jahre vor Augen hält, ein Fortschritt. Aber Sie haben recht, die Region insgesamt, Kosovo selbst, Mazedonien, übrigens auch das EU-Mitglied Kroatien, geben Anlass zu großer Sorge. Wir müssen feststellen, dass die Erweiterungspolitik der EU und der NATO sowie die Nachbarschaftspolitik der Europäischen Union nicht die Ergebnisse gebracht haben, die man sich erwartet hat vor 15 oder 20 Jahren.

Woran liegt das?

Wir sind weit davon entfernt, in diesen Staaten eine dauerhaft selbsttragende Stabilität zu haben. Wir haben es weiterhin mit ethnischen Problemen zu tun, mit massiven wirtschaftlichen Fragen, mit Arbeitslosigkeit, mit den Überresten der Kriege. Dies liegt an der schlechten und zerrissenen politischen Führung und daran, dass man sich nicht einigen kann: Beispielsweise in Bosnien-Herzegowina, wo man glaubt, sich auf dieser provisorischen Verfassung, die damals vor 20 Jahren in Dayton entstanden ist, ausruhen zu dürfen. Das kann alles so nicht funktionieren. Es liegt aber auch daran, dass der Westen und die EU der Region nicht mehr genügend Aufmerksamkeit auf höchster Ebene zugewandt haben. In den letzten Jahren waren alle Augen auf die Ukraine gerichtet. Und man hat vergessen, dass beispielsweise Mazedonien allmählich innen- und außenpolitisch in eine Katastrophe hineinschlittert, weil wir seit 20 Jahren nicht imstande sind, dem Land einen Namen zu geben, also es zu akzeptieren. (Anm. d. Red.: Griechenland erkennt den Namen "Mazedonien" nicht an, weil er dem Namen der nordgriechischen Provinz entspricht.) Damit fängt es ja schon einmal an. Das ist eine Tragödie.

Proteste in Mazedonien (Foto: DW)
Proteste in MazedonienBild: DW/P. Stojanovski

Im Kosovo formiert sich die Regierung, es gibt einen neuen Präsidenten. Wann geht es denn wieder los mit dem Dialog mit Serbien? Wo liegen die Probleme?

Ich finde es erfreulich, dass sich der neugewählte kosovarische Präsident Hashim Thaci zur Fortführung der Gespräche mit Serbien und zum europäischen Kurs Kosovos bekannt hat. In Prishtina war man leider auch in den letzten Monaten mehr mit sich selbst beschäftigt und zerstritten über den richtigen Kurs nach vorne, und man muss Sorge haben, dass dort Kräfte, die eher in das nationalistische Lager drängen, weiter erstarken können - genauso wie in anderen Teilen der Region. Deswegen ist es - was die europäische Politik angeht - eben sehr wichtig, dass wir Kosovo nicht links liegen lassen. Genauso wie wir Mazedonien nicht links liegen lassen dürfen. Ich würde mir wünschen, dass die EU eine hochrangige Persönlichkeit ernennt, die nichts anderes zu tun hat, als ständig in diesen Hauptstädten auf die Pauke zu hauen und die Verantwortlichen daran zu erinnern, welche Verpflichtungen sie übernommen haben - im Sinne der Verpflichtung gegenüber ihren eigenen Wählern. Das Problem der Europäischen Union ist, dass wir zu viele Kommissare haben, die sich gegenseitig im Weg stehen, und am Ende passiert dann leider gar nichts. Das ist ein Organisationsproblem der EU. Ich bin dafür, dass dort, wo es wirklich nötig ist - und in Südosteuropa ist es nötig -, auf höchster Ebene eine dauerhafte Beschallung stattfindet, eine dauerhafte Einwirkung. Und dafür braucht es jemanden, der die Zeit hat, die Energie hat und die Autorität mitbringt aus Brüssel, für 500 Millionen Menschen zu sprechen und zu sagen: Hier geht's lang!

Das ist ja ein konkreter Vorschlag, aber wir haben dort bereits starkes europäisches Engagement. EULEX ist zum Beispiel eine europäische Mission, Erweiterungskommissar Johannes Hahn ist häufig in der Region. Meinen Sie, dass man die Kräfte bündeln soll?

Ich bin ein Gegner der ausufernden Präsenz-Bürokratie. Es hat beispielsweise Kosovo gar nicht so gut getan, dass da seit 1999 Tausende und Abertausende internationale Beamte und Entsandte und Soldaten in Pristina mehr oder weniger herumsaßen und Dinge erledigten, die problemlos auch ein arbeitsloser Kosovare hätte erledigen können. Die Kosovaren beispielsweise zu ermuntern und zu ermächtigen, ihre Verantwortlichkeiten selbst zu erledigen - vom Herstellen von Autokennzeichen bis zum Organisieren einer besseren öffentlichen Verwaltung und Polizeitruppe. Ich bin also gar nicht so sehr für diese umfassenden großen Präsenzen und finde es in diesem Sinne auch gut, dass jetzt eine weitere Rückbildung der NATO-Präsenz, der militärischen Präsenz im Kosovo geplant ist. Es ist auch ein Kardinalfehler gewesen, dass wir bei der Konstruktion unserer Beziehung zu der Region für alle Visumsfreiheit erreichen konnten, nur für die Kosovaren nicht, mit dem Ergebnis, dass diese von allen isoliert sind.

Fordern Sie auch eine Rückkehr zu einer "Paketbehandlung" der Westbalkan-Staaten?

Ganz genau. Und ich glaube an das alte Rezept, diesen Staaten, die Interesse haben, als Erweiterungspartner eines Tages der EU anzugehören, zuzurufen: Seid euch darüber im Klaren, der Eintrittspreis in die EU ist die Beendigung jedweder Streitigkeiten mit eurer Nachbarschaft. Auch das EU-Mitglied Griechenland muss irgendwann mal einen kleinen Schritt des Kompromisses anbieten, damit das Land Mazedonien endlich so heißen darf, wie es meiner Meinung nach heißen sollte: nämlich Mazedonien.

Was muss jetzt in Mazedonien passieren?

Eine gute Nachricht ist, dass die umstrittene Amnestie-Entscheidung (für Politiker) in Mazedonien doch zurückgenommen worden ist. Damit ist zumindest aus meiner Sicht eine wichtige Voraussetzung dafür geschaffen, dass man zwischen der bisherigen Regierung und der Opposition eine Verabredung über die dann hoffentlich von keiner Seite boykottierte Abhaltung von Wahlen treffen kann, dass man Reformpakete anpackt. Es ist gut, dass die Bundesregierung vor wenigen Wochen Botschafter Johannes Haindl, den ich sehr schätze, zum "Special Envoy" (Sondergesandten) ernannt hat, der nun schon zum wiederholten Male in Skopje gewesen ist. Genauso schön wäre es, wenn die Europäische Union eben mal nicht nur durch den einen und dann durch einen anderen Kommissar, sondern durch eine politische hochrangige Persönlichkeit auf diesen Prozess einwirken würde - jemand, der das nicht etwa nur vorübergehend macht, sondern den Auftrag hat, das Problem zu lösen.

Der Diplomat und Jurist Wolfgang Ischinger leitet seit 2008 die Münchner Sicherheitskonferenz. Davor war er unter anderem deutscher Botschafter in Washington und London.