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"Unsere Freude ist ihr Unheil"

Dana Regev/nin12. Mai 2016

Israel feiert seinen Unabhängigkeitstag, gleichzeitig gedenken die Palästinenser der Nakba, "der Katastrophe". Er markiert das Ereignis, das sie zu Tausenden aus ihrer Heimat vertrieben hat.

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Fahnen von Israel und Palästina werden gemeinsam geschwenkt (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Ihren 68. Unabhängigkeitstag - Yom Ha'atzmaut - feiern viele Israelis, indem sie auf die Straße gehen, gemeinsam essen und das Feuerwerk anschauen - trotz einer seit acht Monaten andauernden Welle der Gewalt, die bereits 28 israelische und mehr als 200 palästinensische Opfer gefordert hat.

Während die Einwohner Israels am 12. Mai ihren Nationalfeiertag zelebrieren, gedenken die Palästinenser drei Tage später der Nakba - dem "Tag der Katastrophe". Für sie ist der israelische Unabhängigkeitstag der Tag, an dem der Staat Israel auf dem Land gegründet wurde, das bis dahin zumindest teilweise von Palästinensern bevölkert war.

Während des ersten arabisch-israelischen Krieges im Jahr 1948 wurden allgemeinen Schätzungen zufolge 700.000 Palästinenser gewaltsam von ihrem Territorium vertrieben oder waren gezwungen zu fliehen. Israelis sprechen von einem Unabhängigkeitskrieg, andere von dem Palästinakrieg. An seinem Ende waren Dreiviertel des ehemaligen Palästinas zu Israel geworden, Jordanien hatte das Westjordanland annektiert und Ägypten den Gazastreifen.

Ungetrübte israelische Freude

Die israelischen Feierlichkeiten werden selten von der palästinensischen Trauer getrübt. Auch in diesem Jahr ist das Westjordanland für zwei Tage abgeriegelt, wie schon in den vergangenen Jahren. Israelische Soldaten wurden in Alarmbereitschaft versetzt - aus Angst, weitere Zusammenstöße könnten zu weiteren Opfern führen.

Wenn die Feierlaune in Israel abgeklungen ist, werden am 15. Mai die Palästinenser auf die Straße gehen. Sie wollen gegen Israels anhaltende militärische Präsenz im Westjordanland demonstrieren und ein Zeichen gegen die Besatzung setzen, die ihr Volk vor fast sieben Jahrzehnten ins Unglück gestürzt hat. So jedenfalls sieht ihre Sicht der Dinge aus.

"Seit ich ein kleines Kind bin, erfahre ich etwas über diesen Tag", sagt Alaa Daraghme, ein 24-Jahre alter palästinensischer Student aus Ramallah über die Nakba. "Meine Großmutter erzählt mir immer noch von den Straßen in Haifa, ihrer Heimatstadt, und wie sie sich wünscht, sie mir eines Tages zeigen zu können."

Zwei unterschiedliche Geschichten

Israelische Großeltern erzählen andere Geschichten. "Meine Großeltern sind Holocaust-Überlebende. Wenn ich meine Großmutter anschaue, die immer noch am Leben ist, fühle ich plötzlich die Bedeutung dieses Staates - trotz all seiner Probleme", erzählt Noa Greenberg, ein Psychologie-Student aus Tel Aviv. "Der Unabhängigkeitstag ist immer noch wichtig für mich - auch wenn sich in den vergangenen Jahren viel verändert hat", sagt er.

Im vergangenen Jahr weigerten sich mehrere israelische Kinos, Spielfilme und Dokumentationen über die Nakba auszustrahlen - eine Entscheidung, die bei Regisseuren wie Aktivisten harsche Kritik hervorrief. "Wenn wir uns unserer Geschichte sicher sind, wieso sollten wir dann nicht Andere ihre Geschichte erzählen lassen?", fragt Greenberg. "Es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass eine Seite lügt.", meint er. "Eigentlich ist es ganz einfach: Unsere Freude ist ihr Unheil. Das zuzugeben sollte uns nicht erschrecken."

Israelis am "Tag des Sieges" (Foto: REUTERS/Amir Cohen )
Der Holocaust ist in den Köpfen der Israelis weiter präsent - vor allem am "Tag des Sieges" über Nazi-DeutschlandBild: Reuters/A.Cohen

Viele Israelis widersprechen Greenbergs Einstellung. Sie argumentieren, israelische Institutionen, offizielle Einrichtungen oder staatliche Medien sollten nicht auf den Unabhängigkeitstag als Katastrophe hinweisen. "Ich kann nicht kontrollieren, was Palästinenser in Nablus, Ramallah oder Gaza feiern", sagt Ron, Mitglied einer Studentenverbindung einer der größten israelischen Universitäten. Mehr will er von sich nicht preisgeben, äußert sich aber weiter: "Ich denke, dass Aktivitäten, die Israel oder seine Existenz ablehnen, nicht von Israel finanziert werden sollten - und ich kenne kein Land, dass so etwas tun würde", meint er.

"Ungerechtigkeit anerkennen"

In den vergangenen Jahren hatten viele arabische Studenten, die an israelischen Universitäten studieren, sowie linke israelische Aktivisten den Wunsch geäußert, der Nakba zu gedenken. Größtenteils wurde ihr Anliegen abgelehnt. Als im vergangenen Jahr eine Gruppe israelischer und arabischer Studenten an der Universität von Tel Aviv für das Recht demonstrierte, die Nakba zu begehen, brachen Unruhen aus. Dabei wurden zwei Studenten festgenommen.

Damals erklärte der arabisch-israelische Politiker Ayman Odeh, dass "man über die wichtigen Themen diskutieren kann, die 1948 und 1949 auftraten, aber es ist menschlich unmöglich, zu argumentieren, dass auf dem Land lebende Araber nicht den höchsten Preis gezahlt hätten." Er fügte hinzu: "Ihre Dörfer wurden zerstört, sie wurden von ihrem Heimatland vertrieben und der neue Staat ließ sie nicht zurückkehren. Sie nennen es Nakba, das große Unglück ihres Volkes, und wir sollten diese Ungerechtigkeit anerkennen."

Palästinenser steigen auf die Mauer zwischen Abu Dis und Jerusalem (Foto: Reuters/A. Awad)
Vor allem junge Palästinenser wehren sich gegen die israelische Besatzung - notfalls mit GewaltBild: Reuters/A. Awad

Die jüngeren Generationen beider Seiten waren noch nicht geboren, als Israel gegründet wurde. Dennoch scheint es, als sei das Ereignis für beide Völker noch immer sehr bedeutend.

"Nakba geschieht jeden Tag"

"Für mich geschieht Nakba jeden Tag", sagt der Palästinenser Daraghme. "Ich fühle mich wie im Gefängnis. Ich kann nicht frei herumlaufen und muss immer vorsichtig sein. Ich kann nicht einmal die Orte besuchen, an denen meine Großeltern geboren wurden. Man muss nicht einmal so weit gehen - ich habe sogar Angst, mich außerhalb von Ramallah aufzuhalten, weil überall auf den Straßen israelische Siedler warten."

"Ich finde nicht, dass wir uns dafür entschuldigen sollten, dass wir hier leben", meint Ron. "Die Tatsache, dass wir heute am Leben sind und es uns in unserem eigenen Land gut geht, grenzt an ein Wunder. Ich will keine Klischees bedienen, indem ich den Holocaust als Faustpfand benutze, aber ja, das ist vor gar nicht so langer Zeit geschehen und wer weiß, was geschehen wäre, wenn wir hier nicht unseren Staat errichtet hätten."

Daraghme gibt zu, er habe nie die Zahl gefallener Soldaten auf der israelischen Seite erfahren - oder den israelischen Teil der Geschichte gehört. "Aber ich will nicht zurück nach Jaffa oder Haifa, auch wenn viele Menschen denken, dass dies unsere Ziele sind. Ich wünsche mir nur, dass wir eines Tages alle gemeinsam in einem Staat leben können", sagt er. "Das wünsche ich mir auch", stimmt Ron zu.