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Kippa-Debatte unter Frankreichs Juden

Elisabeth Bryant / ch15. Januar 2016

Die religiöse Identität ausleben, aber Angst davor haben: Frankreichs Juden debattieren nach dem jüngsten antisemitischen Anschlag, ob sie in der Öffentlichkeit noch Kippa tragen können. Elisabeth Bryant aus Paris.

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Männer mit Kippa (Foto: picture-alliance/dpa/W. Rothermel)
Bild: picture-alliance/dpa/W. Rothermel

Philippe Zribi trägt selbst keine Kippa, doch er hat eine entschiedene Meinung zu dem Thema: "Ich bin ein Traditionalist, ich bin nicht religiös", sagt Zribi, dessen Familie im Nordosten von Paris eine koschere Metzgerei betreibt, "doch ich finde, man sollte tragen können, was man will." Dann fügt er hinzu: "Wir müssen die Terroristen terrorisieren, damit wir nicht von ihnen terrorisiert werden."

Nach dem Machetenangriff eines 15jährigen kurdisch-türkischen Schülers auf einen jüdischen Lehrer in Marseille am vergangenen Montag hatte Zvi Ammar, der Vorsitzende des sogenannten israelitischen Konsitoriums in der Stadt, Juden geraten, die traditionelle jüdische Kopfbedeckung aus Sicherheitsgründen vorerst nicht mehr zu tragen, bis "bessere Zeiten" kämen. Der Angegriffene hatte die Kippa getragen. "Sobald wir als Juden identifiziert sind, können wir angegriffen werden und riskieren sogar unser Leben", hatte Ammar in einem Zeitungsinterview gesagt.

Der Angriff fand nur wenige Tage nach dem ersten Jahrestag des Terrorattentats in Paris auf das Satiremagazin "Charlie Hebdo" statt, das aber auch einem koscheren Restaurant gegolten hatte. Die Angst unter Frankreichs rund 500.000 Juden vor weiteren Angriffen wächst. Bereits seit einigen Jahren wandern immer mehr französische Juden aus, ein Großteil von ihnen nach Israel. Und dieser Exodus hat viel mit einer Welle antisemitischer Übergriffe zu tun.

Trauergesteck vor Supermarkt (Foto: picture-alliance/abaca/P. Audrey)
Die Anschläge im Januar 2015 galten auch einem jüdischen SupermarktBild: picture-alliance/abaca/P. Audrey

Behaltet die Kippa auf

Doch einige führende Rabbiner fordern die männlichen Gläubigen auf, ihre religiöse Identität nicht zu verleugnen und die Kippa aufzubehalten. "Wir sollten nicht einen Zentimeter nachgeben", so Frankreichs Oberrabbiner Haim Korsia.

Manche Juden - darunter angeblich der angegriffene Lehrer in Marseille - gehen nun einen Mittelweg und tragen die Kippa unter einer Baseballkappe.

Am Mittwoch schaltete sich sogar Staatspräsident François Hollande in die Debatte ein und nannte es "unerträglich", dass französische Bürger wegen ihres religiösen Bekenntnisses angegriffen würden. "Säkularismus bedeutet das Recht jedes Bürgers, seinen Glauben in Frieden und Würde zu praktizieren", sagte Hollande.

Vor einer kleinen Pariser Synagoge treffe ich Israel Nessim. Für ihn ist das Tragen der traditionellen jüdischen Kopfbedeckung ein Muss. "Als Juden haben wir gegenüber unserer Religion Verpflichtungen", so Nessim, nimmt seine Melone ab und zeigt die darunterliegende Kippa. "Wir müssen unseren Traditionen folgen", sagt er und fügt hinzu: "Selbst wenn wir die Kippa nicht tragen, werden wir immer als Juden erkannt."

Für orthodoxe jüdische Jungen und Männer gilt das Tragen der Kippa als Pflicht, vor allem beim Studium der Thora oder beim Besuch der Synagoge. Doch in Interviews in dieser Woche traten selbst solche Juden, die nicht die Kippa tragen, für das Recht ein, dies tun zu können. "Ich trage keine Kippa, und ich gehe nicht zur Synagoge", sagt der aus Tunesien stammende Claude Chiche. "Einige hier wollen ihre Kippa abnehmen, weil sie Angst haben. Aber das sollten sie nicht tun, sie sollten nicht der Angst nachgeben."

Menschenmenge mit "Charlie-Hebdo"-Schildern (Foto: DPA)
Nach den Attentaten vor einem Jahr standen alle zusammen - auch heute noch?Bild: picture-alliance/dpa

Widerstreitende Gefühle

Eine vergangene Woche veröffentlichte Untersuchung der in den USA ansässigen Organisation Human Rights First zeigte für das Jahr 2014 einen starken Anstieg antisemitischer Übergriffe in Frankreich. Nach der Studie hat sich außerdem die Zahl der französischen Juden, die nach Israel ausgewandert sind - Experten zufolge teilweise wegen dieser Angriffe - gegenüber dem Vorjahr auf mehr als 7200 verdoppelt. Frankreichs Innenminister Bernard Cazeneuve hat allerdings für die ersten neun Monate 2015 von einer leichten Abnahme solcher Übergriffe gesprochen.

Heute haben viele Juden bei dem Thema widerstreitende Gefühle: "Sie wollen ihre religiöse Identität ausleben, haben aber gleichzeitig Angst davor", sagt Martine Cohen vom Pariser Forschungsinstitut CNRS. "Auf der einen Seite fühlen sich Frankreichs Juden völlig im Land integriert, aber sie sind auch wachsamer, was die Zeichen von Antisemitismus betrifft."

Doch Cohen glaubt, seit den Terrorangriffen vom Januar vergangenen Jahres habe sich die öffentliche Meinung gewandelt. "Nach den Anschlägen vom Januar haben sich die Menschen mit den Opfern identifiziert. Sie waren Charlie, sie haben sich mit Juden oder Muslimen identifiziert. Das hat sich seit der Attentate vom November noch verstärkt, weil sich plötzlich jeder als mögliches Ziel fühlte", so Cohen. "Ich glaube, die Juden empfinden es so, dass die Franzosen jetzt hinter ihnen stehen. Es gibt nicht mehr das Gefühl, allein zu sein."

Gewandelte Meinung zu Muslimen?

Das kann man jedoch nicht sagen, wenn es um Angriffe auf Muslime geht, meint Abdallah Zekri, der eine vom Französischen Rat der Muslime getragene Organisation leitet, die Islamfeindlichkeit beobachtet. "Wenn eine Frau angegriffen wird, die ein Kopftuch trägt, weil sie das als Teil ihrer Religion betrachtet, ist das dasselbe, als wenn ein Mann mit Kippa angegriffen wird", sagt Zekri. Doch oft ist die Reaktion bei einem Übergriff auf eine Muslimin völliges Schweigen.

Frankreich ist nicht das einzige Land, in der eine Debatte um das Tragen der Kippatragen entfacht ist. Im vergangenen Jahr hatte auch Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, seinen Glaubensbrüdern geraten, in Großstadtvierteln mit vielen Muslimen auf die Kippa zu verzichten, um nicht zum Ziel von Aggression zu werden. Die Reaktion darauf war ähnlich kontrovers wie jetzt in Frankreich.