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Buchtipp

27. Juli 2010

Die westliche Welt ist pleite und China die einzig verbliebene Großmacht: In seinem neuesten Roman beschreibt Jörg-Uwe Albig eine Zukunft, in der deutsche Gastarbeiter asiatische Vorstadtslums bevölkern.

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Buchcover Jörg Uwe Albig: 'Berlin Palace' - ein asiatisches Frauengesicht in Weiß auf rosafarbenem Hintergrund

Die Ampel an der Straßenkreuzung zeigt Rot. Männer mit Wassereimern, Fensterledern und Gummiwischern eilen herbei, um für ein bisschen Kleingeld die Scheiben der wartenden Autos sauber zu wischen. Ein alltägliches Ritual, das der Werbefilmer Li Ai und ein Kollege mit stoischer Gelassenheit über sich ergehen lassen wollen. Doch diesmal ist eine dieser weißhäutigen Jammergestalten offenbar nicht ganz bei Sinnen und zieht mit seiner Zunge eine Schneise quer durch den Staubfilm der Windschutzscheibe der Limousine.

Schimmelbleiche Gestalt

"Wir starrten auf das hellrosa Organ, das sich krümmte, streckte und plattdrückte an unserer Scheibe, das an der Druckfläche schimmelbleich war wie der Rest der Gestalt." Auf der Kühlerhaube kniend macht der verwirrte Mann weiter, bis herbeieilende Passanten den Fremden herunterzerren. "Es waren rechtschaffene Männer, Männer mit Eheringen, Männer mit polierten, lachenden Zähnen… Der älteste, Sonnenbrille im Weißhaar, strich dem Fremden geduldig den Hemdkragen glatt. 'My good friend', sagte er und zog ihm am Ohr, 'du bist hier nicht in Disneyland.'"

Nein, diese Welt, die wir Leser durch die Augen des Werbefilmers Li Ai erleben, ist für die Gastarbeiter aus dem Westen alles andere als ein Disneyland. Hier sind die Nachfahren der einst führenden westlichen Wirtschaftsnationen Hungerleider, die sich mit miesen Jobs durchs Leben schlagen müssen. Schon in der Eingangsszene seines Romans "Berlin Palace" lässt uns Autor Jörg-Uwe Albig in verstörender Direktheit wissen, wie sehr sich in diesem Zukunftsentwurf die globalen Machtverhältnisse verschoben haben. Vor dieser Kulisse erzählt er die Liebesgeschichte zwischen Li Ai und Olympia Liang, einer Schauspielerin mit kleinkrimineller Vergangenheit und sprödem Charme.

Vorstadtslums deutscher Gastarbeiter

Als Li Ai den Auftrag bekommt, für das Parfum "Wald" einen Werbespot zu drehen, sieht er seine Chance gekommen, Olympia für sich zu gewinnen, in dem er sie als Hauptdarstellerin bucht. Li will sich für den Film von deutscher Folklore inspirieren lassen, von deren Wildheit und Urwüchsigkeit er schon immer so fasziniert war. "Ich strengte mich an, um mir die Germanen vorzustellen. Ich dachte an das uralte Wissen aus den Wäldern, das auch wir einmal besessen hatten und verloren im Gewirr von neunhundertdreiundvierzig Kabelkanälen. Ich dachte an die Einheit von Geist, Körper und Seele, die aus der Armut kam."

Während ihrer Recherche für den Werbespot wagen sich Li und Olympia immer tiefer in die Vorstadtslums. Im Keller eines ruinenartigen Hochhauses entdecken sie den Lieblingsladen der deutschen Gastarbeiter, eine Mischung aus Kaschemme und abgeranzter Frittenbude - den "Berlin Palace". Sie bleiben, reden, trinken und drohen sich langsam in dieser für sie so fremdartig faszinierenden Welt zu verlieren…

Genre-Mix mit Thriller-Elementen

Auch als Leser wird man in diese phantastische Geschichte voll mysteriöser Gestalten und Charaktere gesogen, in der die westliche und östliche Kultur auf neue, ungeahnte Weise aufeinanderstoßen: Einerseits die barbarisch anmutenden armen Schlucker aus dem Westen und andererseits die selbstbewussten neuen Gewinner des Turbokapitalismus, die in edel-designten Hochhauspalästen ein Luxusleben führen.

Mit "Berlin Palace" hat der 50jährige Albig einen funkelnden Roman in einer geschmeidigen Sprache geschrieben, der sich geschickt fast aller Genres bedient. Er ist zugleich Science Fiction und Thriller wie Sozial- und Beziehungsdrama.

Dass die Deutschen mitunter sehr holzschnittartig rustikal geschildert werden; dass sie sich vorzugsweise von Bier und auf Papptellern servierten Würsten ernähren, ist wohl dem Wunsch des Autors entsprungen, karikierend zuzuspitzen. Auch löst er in seinem dritten Buch einige Handlungsstränge und Motive seiner Figuren nicht in Gänze auf. Aber dies macht die Geschichte dafür umso geheimnisvoller und gibt der Phantasie mehr Raum. "Berlin Palace" lässt auf höchst unterhaltsame und zugleich bissige Weise erahnen, wie eine vielleicht sehr nahe Zukunft aussehen könnte, in der das Pendel der Globalisierung vollends zu Gunsten Asiens ausgeschlagen hat. In diesem Fall sollten wir (Deutschen) Fensterleder und Gummiwischer bereit halten.

Autor: Ralf Bosen
Redaktion: Aya Bach

s/w-Porträt Jörg-Uwe Albig (Foto: Rolf Wegener)
Jörg-Uwe AlbigBild: Rolf Wegener