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Jaron Lanier: Gadget - Warum die Zukunft uns noch braucht

Martin Muno28. Januar 2011

Einer der Urväter virtueller Welten zieht eine bittere Bilanz: Die Erfinder des Internets wollten einst Vielfalt und Kreativität. Doch tatsächlich bestehe das Netz heute vor allem aus einem Haufen Müll.

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Jaron Lanier ist eine Internet-Legende. In den 1980er Jahren prägte er den Begriff der "virtual Reality" und reiste mit Datenbrille und -handschuhen ausgerüstet in unbekannte Welten. Doch mit seinem jüngst in Deutschland veröffentlichten Buch "Gadget - Warum die Zukunft uns noch braucht" hat er sich in der Netzgemeinde viele Feinde gemacht. "Alter Mann" oder "Maschinenstürmer" sind noch freundliche Bezeichnungen.

Buchcover Jaron Lanier Gadget
Bild: Suhrkamp

Gadget ist ursprünglich der englische Begriff für Apparat oder Gerät. Heutzutage steht das Wort aber auch für technische Spielereien oder "Schnickschnack". Ein doppeldeutiger Begriff also. Und für Lanier ist denn auch die Entwicklung auf keinem guten Weg. Das heutige Internet hat seiner Auffassung nach zur Folge, dass die Kommunikation allgemein verflacht. Insgesamt stecke im Netz "viel weniger Information als die meisten annehmen. Das meiste ist Müll." In all den Chats, Foren und Social Media regiere allenfalls Mittelmaß: "Anonyme Blog-Kommentare, geschmacklose Video-Späße und leichtgewichtige Musikverschnitte mögen trivial und harmlos erscheinen, doch insgesamt hat die fragmentierte, unpersönliche Kommunikation die zwischenmenschliche Interaktion entwertet."

Hunderte Freunde? Ein Witz!

So mokiert sich Lanier über Menschen, die von sich behaupten, über Facebook hunderte Freunde gewonnen zu haben. "Offensichtlich kann diese Behauptung nur zutreffen, wenn man die Bedeutung von Freundschaft herabmindert. Echte Freundschaft sollte uns mit der unerwarteten Andersartigkeit des anderen konfrontieren." Dagegen setze das Internet zunehmend auf Ähnlichkeit. Und dadurch, so Lanier, nehme man die Vielfalt der Welt immer weniger wahr.

Die Schatten von Jugendlichen mit einem Laptop
Blind für echte Freunde?Bild: picture alliance/dpa

Lanier nimmt vor allem an der sogenannten Schwarmintelligenz Anstoß, also der These, dass ein von vielen Menschen geschaffener Text besser sei als der eines Einzelnen. Die Online-Enzyklopädie Wikipedia etwa arbeitet auf dieser Grundlage. Für Lanier endet das in einem digitalen Maoismus. Wo frühere einzelne Autoren Texte verfassten, verschwindet heute alles hinter der unhinterfragbaren Wolke des Schwarms, der lediglich Bestehendes zusammenfasst - wie Lanier drastisch formuliert: Es herrsche die "Hierarchie der digitalen Metaebene, wonach ein vermanschter Brei wichtiger ist als die Quellen, aus denen der Brei zusammengemanscht wurde".

Sorge um die "digital natives"

Durch die Logik des Schwarms verlören die Menschen ihre Kritikfähigkeit und ihre Skepsis, klagt Lanier. Gefährdet seien vor allem die "digital natives": "Ich mache mir Sorgen um die nächste Generation junger Menschen in aller Welt, weil sie mit einer internetbasierten Technologie aufwächst, die ganz auf kollektive Aggregationstechniken setzt. Werden sie der Dynamik der Meute leichter erliegen, wenn sie einmal erwachsen sind?"

Für Kreative werde es dagegen immer schwieriger, Inhalte zu verbreiten, weil es im Netz mit seiner Gratis-Kultur nichts zu verdienen gibt. Da innovative Kultur Laniers Ansicht nach heute vor allem in den traditionellen Medien entsteht und das Web deren Existenz bedroht, "stehen wir vor einer Situation, in der die Kultur tatsächlich ihr eigenes Saatgut aufzehrt".

Lesen? Googeln!

Für Laniers Thesen sprechen mehrere Indizien: So beklagen zahlreiche Hochschullehrer, dass immer weniger Studenten wirklich lesen - in dem Sinne, in dem ihn etwa der Semiotiker Umberto Eco begreift: einen ganzen Text nach seiner Intention zu befragen. Stattdessen wird der Text nur als Steinbruch benutzt; aus gegoogelten Zitaten wird der Brei hergestellt, den Lanier so kritisiert.

Internet Guru Jaron Lanier
Jaron LanierBild: AP

Verstörend ist denn auch die Lektüre einer Studie der Universität Maryland: Hierfür verzichteten Studenten für 24 Stunden auf Handy, Internet und Fernsehen. Die Studienteilnehmer beschrieben ihre Reaktion auf die erzwungene Trennung als verängstigt, nervös oder "wie auf Entzug". Leben ohne Handy oder Web? Wer das nicht mehr kann, macht sich extrem abhängig von technischem Schnickschnack - "gadget" eben. Davor möchte Lanier warnen.

Jaron Lanier
Gadget - Warum die Zukunft uns noch braucht
Suhrkamp 2010
ISBN 9783518422069
EUR 19,90