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Jekaterinburg ist heute kein Oppositionszentrum mehr

28. Februar 2008

Jekaterinburg gab Russland den ersten frei gewählten Präsidenten Boris Jelzin. Während der Perestrojka war sie ein Zentrum der Oppositionsbewegung. Was denken die Menschen dort über die Zukunft Russlands heute?

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An der Grenze zwischen Europa und AsienBild: Oxana Evdokimova/DW

Jekaterinburg liegt an der Grenze zwischen Europa und Asien und ist heute, nach Moskau und St. Petersburg die drittwichtigste Stadt in Russland. Es ist die erste Stadt Europas und die erste Stadt Asiens. Jedem Fahrer, der in die Hauptstadt des Urals hereinfährt, fällt sofort ein großes Schild auf, das neben der Autobahn stolz auf die Grenze zwischen zwei Erdteilen aufmerksam macht. Die Stelle wird von einem vier Meter hohen Metallpfeiler markiert. Ungefähr hier sollen zwei Welten auf einander treffen: der Osten und der Westen, Europa und Asien. Ein außergewöhnliches Fotomotiv für jeden Besucher. Familie Iwanow aus Jekaterinburg zeigt die berühmte Grenzstelle der Verwandten Ljudmila aus Moskau. Ihre ersten Eindrücke: "Ich bin eine wahrhaftige Europäerin. Heute habe ich zum ersten Mal die Grenze passiert. Ich bin zum ersten Mal in Asien!"

Wunsch nach "starkem Mann"

Wenn man an der Grenze zwischen Europa und Asien steht, dann kommt einem fast von allein die Frage in den Sinn, in welche Richtung das heutige Russland schreitet. Sind die Ängste des Westens über den Abbau demokratischer Werte im Lande berechtigt? Das Familienoberhaupt Wladimir Iwanow meint: "Ich denke, dass Russland seinen eigenen Weg gehen soll. Damit Russland eine Wiedergeburt erlebt, braucht man an der Führung eine starke Hand." Eine junge Verkäuferin im Souvenirkiosk am Metallpfeiler ist mit seiner Meinung einverstanden. Jekaterina erzählt: "Demokratie oder Diktatur. Das Wichtigste ist, dass Russland einen starken Mann an der Spitze hat, der alles unter Kontrolle hält. Es war unter Jelzin so ein Chaos. Jetzt spürt man Stabilität und man fühlt sich viel sicherer. Wir haben in diesen Jahren eine Möglichkeit bekommen Geld zu verdienen und unseren Wohlstand zu verbessern. Das Leben hat sich zum Besseren verändert."

Widerstand gegen Rechtlosigkeit

15 km weiter liegt das Stadtzentrum von Jekaterinburg. Hier leben fast 1,5 Millionen Menschen. Einst eine geschlossene Rüstungsindustriestadt, heute eine offene Metropole mitten im Herzen Russlands und ein wichtiger Knotenpunkt für Geschäftsleute wie Dmitrij Golowin. Er führt ein kleines Unternehmen, das Bauwerkzeuge jeder Art vermietet, und er kämpft gegen Korruption, Rechtlosigkeit und Intransparenz des russischen Staates. Vor vier Jahren hat er das "Komitee 101" gegründet. Er bekam an seiner eigenen Haut zu spüren, wie Beamte einem Geschäftsmann das Leben schwer machen können. Golowin organisiert Protestaktionen, schreibt Briefe an den Bürgermeister, auch an Putin, und versucht, wie er selbst sagt, in Russland Demokratie von unten zu entwickeln: "Die meisten Menschen denken: um ein Problem loszuwerden, soll man einfach einen Beamten bestechen und nach seinen Regeln spielen. Der Beamte gewinnt sowieso, denkt man. Hinter ihm steht doch der ganze Staat. Aber dieser Weg führt in eine Sackgasse."

Beamtenschaft als Stütze des Kreml

Es sei noch zu früh, von Stabilität zu sprechen, ist der Geschäftsmann überzeugt. Dafür ist Russland noch nicht bereit. Die russische Demokratie ist unterentwickelt, die Zivilgesellschaft noch zu schwach. Der Staatsapparat wurde dagegen in den letzen Jahren enorm gestärkt. Die Machtvertikale gestrafft. Ganz in sowjetischer – nicht in europäischer - Tradition. Und das, so Dmitrij, hat einen Sinn: "Die Beamten sind die einzige Kraft, die den Kreml wirklich unterstützt. Je mehr Beamte es gibt, desto mehr Wähler haben die Machthaber. Mittlere und kleinere Unternehmer dagegen sind Individualisten und im Geist sehr freie Menschen. Man kann ihnen nicht das sagen, was jetzt den Angestellten des öffentlichen Dienstes und staatlicher Unternehmen von ihren Chefs befohlen wird: stimme für die Partei und den Präsidenten."

Kritik in Medien unerwünscht

Der Kampf gegen korrupte Beamte, den Dmitrij Golowin führt, wird in Jekaterinburg kaum wahrgenommen. Was kann schon irgendein unwichtiger Unternehmer gegen die mächtige Staatsmaschine und ihre große Partei ausrichten? Unter heutigen Bedingungen tatsächlich wenig. So denkt der freie Journalist Wiktor Belimow. Noch vor kurzem war er Chefredakteur der Regionalausgabe der einflussreichen Wirtschaftszeitschrift "Expert". Er wurde gefeuert, wegen zu viel Kritik: Belimow regte Themen an, wie Korruption, Reformen, und deckte Missstände in der Armee auf. Dies entspreche nicht mehr dem Image des heutigen Russlands, war das Urteil des Hauptverlegers in Moskau. Der unbequeme Journalist verlor seinen Job: "Es besteht eine große Gefahr, dass das politische Leben in Russland glamourös wird und Politiker nicht fähig sein werden, auf Krisensituation zu reagieren. Probleme werden totgeschwiegen. Die Presse nimmt sie nicht wahr und berichtet nur über positive Ereignisse. Diese Zeitbombe kann irgendwann explodieren. Über das Schicksal Russlands wird heute im Rahmen des Moskauer Rings von den Menschen entschieden, die ihre eigenen Interessen verfolgen."

Menschen zunehmend apolitisch

Das Volk, erzählt Belimow, werde absichtlich apolitisch gemacht. Denn so regiere man am einfachsten. Der durchschnittliche Russe sei heute konsumgierig und interessiere sich für Geld, Unterhaltung, schöne Reisen und Kleidung, nicht für Demokratie. Auch in einer Stadt, deren Einwohner vor 17 Jahren bereit waren, für die Freiheit und Bürgerrechte auf die Strassen gehen. Noch einen Beweis dafür findet sich im Keller des ehemaligen KGB-Gebäudes in Jekaterinburg. Hier probt der bekannte Dramatiker und Regisseur Nikolaj Koljada. Er macht in seinen Theaterstücken einfache Menschen zu seinen Helden, die vom Reichtum des Landes nichts abbekommen, von politischen Entscheidungen der Machthaber nichts mitkriegen. Weit weg von Moskau sind sie mit ihren Problemen allein. "Wieder wird von Personenkult gesprochen, von Der Partei. Alles bringt uns zurück in die sowjetische Zeit. Ich habe für mich eine Entscheidung getroffen, mich von der Politik zu distanzieren. In einem solchem ‚Theater‘ will ich nicht mitspielen! Sollen diese Politiker uns doch in Ruhe lassen! Hauptsache, sie stören uns nicht!"

Oxana Evdokimova, DW-Russisch