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Jenseits aller Statistik

3. Oktober 2010

20 Jahre sind ein Wimpernschlag der Geschichte. Daran sollten alle denken, die den 20. Jahrestag der Wiedervereinigung zum Anlass nehmen, das Trennende zu kritisieren und das Erreichte nicht zu würdigen, meint Marc Koch.

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Deutschlandkarte mit den Jahreszahlen 1990 und 2010 (DW-Grafik: Peter Steinmetz)
Marc Koch, Chefredakteur von DW-RADIO und DW-WORLD.DE (Foto: DW)
Marc Koch, Chefredakteur von DW-RADIO und DW-WORLD.DEBild: DW

Zum Jubiläum regieren die Statistiken: Daten und Zahlen, die Auskunft darüber geben, wie Deutschland heute dasteht - 20 Jahre nach der Wiedervereinigung. Und es ist ja richtig: Viele dieser Statistiken zeigen, dass in den letzten zwei Jahrzehnten auch Fehler gemacht worden sind, dass es noch immer Ungerechtigkeiten gibt, dass die Menschen in Ostdeutschland doppelt so oft arbeitslos sind wie die im Westen, dass Menschen in Westdeutschland für die gleiche Arbeit mehr Geld bekommen als die im Osten. All das kann man in vielen klugen wissenschaftlichen Studien nachlesen - doch was sagt es über Deutschland und die Wiedervereinigung? Nicht sehr viel.

Historisch einzigartig

Das größte und noch immer nicht beendete Projekt der deutschen Nachkriegsgeschichte lässt sich nicht an Zahlen messen. Natürlich spüren die Bürger der alten westdeutschen Republik die finanzielle Belastung, die viele Milliarden Euro an Transferzahlungen für Ostdeutschland verursacht haben und noch lange verursachen werden. Und noch viel größer war die Herausforderung für viele Menschen aus der alten DDR, die sich nach dem gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Zusammenbruch ihres Staates ein völlig neues Leben aufbauen mussten.

Die Erfolge allerdings werden in der deutschen Öffentlichkeit immer noch nicht richtig gewürdigt. Stattdessen wird viel zu viel geklagt - obwohl diese Klagen nach 20 Jahren kaum etwas anderes sind als pure Interessenpolitik. Im Osten wie im Westen. Denn niemand konnte erwarten, dass innerhalb von zwei Jahrzehnten zwei einander widersprechende Gesellschaftssysteme wie das der Bundesrepublik und das der DDR komplett zusammenwachsen. Wer heute fordert, nach 20 Jahren dürfe man keinen Unterschied mehr bemerken zwischen Ost und West, der hat die Dimension dieses unerhörten und in dieser Form historisch einzigartigen Ereignisses nicht begriffen.

Keine Zeit für Experimente

Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass zwischen dem Fall der Mauer und dem 3. Oktober 1990 viele Fehler gemacht und viele Situationen falsch eingeschätzt worden sind. Heute steht fest: Die Architekten der deutschen Einheit hatten damals keine Zeit für Experimente, keine Zeit für eine langsame Annäherung der beiden deutschen Staaten. Sie mussten eine historisch einmalige Chance nutzen in einem Moment, in dem die bis dahin bekannte Weltordnung sich radikal veränderte - und das haben sie getan. Natürlich war es vorschnell, den Menschen zu versprechen, die Einheit werde innerhalb weniger Jahre und zu überschaubaren Kosten zu haben sein, wie es 1990 der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl getan hat. Diese Sätze leben bis heute fort als billige Munition für Stammtisch-Diskussionen - die Leistung Kohls und all derer, die die deutsche Einheit zuwege gebracht haben, können sie nicht schmälern.

Denn Deutschland hat in jeder Hinsicht von der Wiedervereinigung profitiert. Dazu gehört auch - und das ist nicht wenig! -, dass dieses Land in den letzten 20 Jahren offener, bunter, lebhafter und gelassener geworden ist. Es hat gelernt, mit Widersprüchen, offenen Fragen und gesellschaftlichen Konflikten umzugehen, sie anzunehmen und sie nicht unter den Teppich zu kehren. Es sucht seine Antworten nicht mehr, indem es im Trüben fischt - es macht die Augen auf, es denkt nach, schaut hin und fragt. Deutschland ist ein Labor, eine Gesellschaft mitten in Europa, die ständig mit Veränderungen, Herausforderungen und neuen Erfahrungen umgehen muss. Auch das ist ein Ergebnis der Wiedervereinigung. Und es sagt mehr über dieses Land als alle Statistiken.

Autor: Marc Koch

Redaktion: Dеnnis Stutе