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Jesidische Nachrichten aus Hannover

Christian Ignatzi12. August 2014

Das Internetportal eines Studenten aus Hannover informiert Menschen in aller Welt über die Verfolgung der Jesiden durch islamistische Kämpfer. Die Klickzahlen explodieren.

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Screenshot www.ezidipress.com
Bild: www.ezidipress.com

So richtig erinnern kann sich Hayri Demir nicht, wann er zum letzten Mal ausgeschlafen hat. Seit die religiöse Minderheit der Jesiden im Irak von Kämpfern der Terrorgruppe "Islamischer Staat" (IS) verfolgt wird, arbeitet er jeden Tag mindestens 18 Stunden. "Das ist aber nicht schlimm", sagt er. "Ich könnte ohnehin nicht schlafen."

Demir, ein 23-jähriger Jurastudent aus Hannover und selbst Jeside. Er sorgt sich um seine Verwandten im Irak. "Wir Jesiden hier in Deutschland fühlen uns ja fast schon schlecht, wenn wir etwas essen, weil wir wissen, dass unsere Freunde und Verwandten auf der Flucht nichts haben", erzählt er. Und da er ohnehin nicht zur Ruhe kommt, weil er in Gedanken ständig bei ihnen ist, macht es ihm auch nichts aus, in den Semesterferien 18 Stunden für sein Nachrichtenportal Ezidi Press zu arbeiten.

Krisennachrichten statt Traditionspflege

Demir hat seinen Blog vor zwei Jahren gegründet, um Jesiden auf der ganzen Welt zu vernetzen. Er wollte die Traditionen der Gruppe stärken. Der jesidischen Glaubensgemeinschaft kann niemand beitreten, sondern ihre Mitglieder werden in sie hineingeboren - sofern Vater und Mutter beide Jesiden sind. Wer einen Nicht-Jesiden heiratet, muss austreten.

Damals ahnte er nicht, dass sich das Projekt zu einem weltweit gelesenen Nachrichtenportal entwickeln würde. Dass das so kam, hat mit der derzeitigen Situation der religiösen Gruppe im Irak zu tun. "Es ist unglaublich", sagt Demir, "wir hatten bislang 30.000 Klicks pro Monat. Jetzt sind es plötzlich 250.000." Auch im Social Media-Netzwerk Facebook wuchs die Zahl der Vernetzten innerhalb kürzester Zeit von 3500 auf 16.000.

Irak Flüchtlinge 10.08.2014 Sindschar Gebirge
Jesiden auf der Flucht vor IS-Kämpfern im IrakBild: Reuters

Die Leserschaft interessiert sich vor allem dafür, was Demir und sein Team aus erster Hand über die Angriffe der IS-Kämpfer auf Jesiden im Irak berichten. 13 "Festangestellte", wie er sie nennt - zum großen Teil seine Freunde -, bearbeiten als Redakteure Nachrichtentexte auf russisch, kurdisch, englisch und deutsch. Die Informationen kommen von einem Korrespondentennetzwerk, das aus zwölf jesidischen Journalisten in mehreren Ländern besteht - alle arbeiten ehrenamtlich. Vor acht Monaten hatte Demir begonnen, seinen Blog zum Nachrichtenportal auszubauen, "weil den Jesiden in Deutschland einfach viele Informationen über Jesiden in anderen Ländern fehlten".

60 Prozent englischsprachige Leser

Seit dem Beginn der Konflikte im Irak hat sich mit der wachsenden Leserzahl auch deren Herkunft verschoben. Waren zuvor noch 80 Prozent aus Deutschland, stammen mittlerweile 60 Prozent der Klicks aus englischsprachigen Ländern. "Einen Schub auf der englischen Seite hatten wir vor allem aus Indien, als die Leute dort die Chronik entdeckt hatten", erklärt Demir. Viele nicht-muslimische Inder seien nicht gut auf den Islam zu sprechen und die Angriffe der Extremisten im Irak seien Wasser auf ihre Mühlen.

Die Chronik ist derzeit der wichtigste Artikel auf der Webseite. Seit Beginn der Jesiden-Verfolgung durch IS-Kämpfer fassen die Macher der Webseite die neuesten Informationen ihrer Korrespondenten zusammen. Neben der Berichterstattung aus dem Irak gibt das Portal Informationen über das Jesidentum in Deutschland und den Umgang der Politik mit der Situation im Irak.

Bielefeld Protest von Jesiden 09.08.2014
In Bielefeld demonstrierten deutsche Jesiden für ihre Verwandten im IrakBild: DW/M. Lütticke

Der Zentralrat der Jesiden in Deutschland ist dankbar für die Öffentlichkeit, die Ezidi Press schafft. "Sie machen eine hervorragende Arbeit und sind im Irak sehr gut vernetzt", lobt der Vorsitzende des Zentralrats, Telim Tolan. Natürlich könne es sein, dass bei den vielen Informationen einmal eine falsche Meldung durchrutsche, aber: "Das höchste Gut der Presse ist die Vertrauenswürdigkeit, und in diesem Punkt leisten sie viel." Auch für andere Medien sei Ezidi Press dank seines Netzwerks mittlerweile eine zuverlässige und seriöse Quelle. Selbst große Redaktionen wie die von CNN und BBC hätten nach Informationen gefragt.

Meldungen vor Ort verifizieren

Den großen Nachrichtenportalen könnten er und sein Team vor allem dann helfen, wenn es um die Überprüfung einer Meldung ginge, so Demir. Kürzlich berichtete etwa die Agentur Reuters von einem Massengrab mit 300 Jesiden, das die irakische Regierung entdeckt hätte. "Bei Regierungsangaben muss man vorsichtig sein, weil der Irak versucht, der Terrorgruppe noch mehr schlimme Taten zuzuschreiben", sagt Demir. Er habe aber mit Augenzeugen telefonieren und so die Meldung verifizieren können. Berichte der IS-Terroristen, sie hätten die zentrale Pilgerstätte der Jesiden zerstört, konnte das Ezidi Press Team dagegen widerlegen, betont Demir.

Solche Infos geben die Betreiber des Nachrichtenportals gern und kostenlos weiter. Was personenbezogene Daten betrifft, wie die Namen der Korrespondenten, sind sie mittlerweile vorsichtig geworden. "Es gibt deutsche IS-Sympathisanten, die die Kämpfer im Irak mit Tipps versorgen", warnt Demir. "Ich habe das zuerst für paranoid gehalten, aber die Kämpfer greifen wirklich gezielt unsere Leute an." Da die IS-Bewegung Kampfberichte auch nutzten, um die Terroristen zu schulen, halte sich Ezidi Press damit inzwischen zurück.

Betreiber Hayri Demi hofft vor allem, dass der Konflikt bald zu Ende ist. Auch, weil im Oktober das neue Semester beginnt. Denn: "18 Stunden am Tag zu arbeiten, schaffe ich nur in der vorlesungsfreien Zeit." Und als Vollzeitstudent kann er dann vielleicht auch endlich wieder schlafen.