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Politik

Johnsons Corona-Öffnung erntet heftige Kritik

6. Juli 2021

Das angekündigte Ende aller Corona-Vorschriften in England hat einen Sturm der Entrüstung gegen den britischen Premierminister Boris Johnson ausgelöst. Es gibt aber auch Zustimmung.

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Großbritannien Coronavirus l Lockerungen in Bolton
In diesem Einkaufsmarkt im englischen Bolton werden Schutzmasken getragen - nochBild: Adam Vaughan/Zumapress/picture alliance

Ärzte, Gewerkschaften, Bürgermeister und Opposition sind sich einig: Einhellig missbilligen sie vor allem die Entscheidung, die Maskenpflicht im Nahverkehr und in Geschäften aufzuheben. Es sei besorgniserregend, dass Boris Johnson die Lockerungen "mit Vollgas" durchsetze, sagte der Chef der Ärztevereinigung BMA, Chaand Nagpaul. "Es besteht eine klare Diskrepanz zwischen den Maßnahmen, die die Regierung plant, und den Daten und Ansichten von Wissenschaftlern und Ärzten."

Am Vortag hatte Premierminister Boris Johnson bestätigt, dass die verbliebenen Maßnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus in England trotz steigender Infektionszahlen am 19. Juli aufgehoben werden sollen. Dazu zählen Abstandsregeln und Maskenpflicht. Nachtclubs und Discos dürfen wieder öffnen, Theater und Sportstadien können wieder alle Plätze besetzen und für Veranstaltungen gibt es keine Zuschauerbegrenzungen mehr. "Wir werden von den rechtlichen Beschränkungen abrücken und es den Menschen ermöglichen, ihre eigene Entscheidung zu treffen", sagte der Premier. Er setze auf die "persönliche Verantwortung" der Engländer, empfehle aber, "vorsichtig zu bleiben".

Großbritanniens Premierminister Boris Johnson über Lockerungen der Corona-Beschränkungen
Premier Boris Johnson bei der Verkündung seines neuen Corona-Kurses in LondonBild: DANIEL LEAL-OLIVAS/AFP

"Diese Pandemie ist noch lange nicht vorbei, sie wird auch nach dem 19. nicht vorbei sein", warnte er und stimmte die Bevölkerung darauf ein, dass es weitere Corona-Tote geben werde. Johnson baute sich allerdings eine kleine Umkehrmöglichkeit bei weiter steigenden Fallzahlen ein: Die Entscheidungen sollen am 12. Juli nochmals offiziell bestätigt werden. Die Regierung in London hat in Gesundheitsfragen nur für England das Sagen, Schottland und Wales entscheiden eigenständig.

"Massives Experiment"

Das Land befinde sich in unbekanntem Territorium, sagte die Gesundheitswissenschaftlerin Devi Sridhar bei Sky News. Es handle sich um ein "massives Experiment". Oppositionsführer Keir Starmer von der Labour-Partei nannte Johnsons Pläne "rücksichtslos". Der Bürgermeister der Metropolregion Liverpool, Steve Rotherham, wies auf eine Yougov-Umfrage hin, laut der 71 Prozent der Briten für die Beibehaltung der Maskenpflicht sind. Londons Bürgermeister Sadiq Khan kündigte an, das Maskentragen in U-Bahnen, Bussen und Zügen mit Verkehrsunternehmen und der Regierung zu besprechen. "Meine Maske beschützt dich, deine Maske beschützt mich", twitterte Khan.

Wirtschaftsvertreter reagierten hingegen erfreut. Der Branchenverband UK Hospitality, der Gaststätten und Tourismusbetriebe vertritt, lobte die Ankündigung als Meilenstein. Der Kneipenverband British Beer and Pub Association wies darauf hin, dass endlich mehr als 2000 Pubs öffnen könnten, die wegen strenger Abstandsregeln derzeit immer noch geschlossen haben. Auch die Veranstaltungsbranche zeigte sich begeistert. Der Industrieverband CBI begrüßte die Pläne ebenfalls, mahnte aber, Unternehmen müssten die Sicherheit ihrer Angestellten an erste Stelle setzen.

Regierung verteidigt Pläne

Unterdessen verteidigte Gesundheitsminister Sajid Javid das Vorhaben der Regierung. Im Radiosender BBC 4 räumte Javid zwar ein, dass sich die Zahl der Neuinfektionen erhöhen werde. "Wenn wir lockern und in den Sommer starten, erwarten wir einen deutlichen Anstieg, die Zahl der Fälle könnte auf bis zu 100.000 (täglich) steigen", sagte der Minister.

In Großbritannien ist die Zahl der Corona-Infektionen zuletzt wieder in die Höhe geschnellt: auf fast 30.000 Fälle pro Tag. Die Sieben-Tage-Inzidenz, also die Neuinfektionen pro 100.000 Menschen binnen einer Woche, betrug Ende Juni 229,9. Grund ist die rasche Ausbreitung der hochansteckenden Delta-Variante. Die Regierung hatte die ursprünglich schon für den 21. Juni geplante Aufhebung aller Corona-Maßnahmen in England deshalb zunächst um vier Wochen verschoben.

Besorgnis über Delta-Variante

Der Minister fügte hinzu, es sei an der Zeit, sich verstärkt um andere Gesundheitsprobleme zu kümmern. Millionen Menschen hätten sich während der Pandemie mit ihren Sorgen nicht an den Nationalen Gesundheitsdienst (NHS) gewandt. Dies müsse ebenfalls eine Priorität sein. "Es kann nicht nur immer um Corona gehen", sagte Javid.

Grütters mahnt 

Mit Blick auf volle Stadien zur Fußball-Europameisterschaft mahnte unterdessen die deutsche Kulturstaatsministerin Monika Grütters zur Vorsicht. Die Briten seien dabei, ihren "schönen Erfolg, den sie vor allem mit dem Impfen erzielt haben", zu "verspielen", sagte sie der Deutschen Welle. 60.000 Zuschauer in einer Fußballarena wie die in London seien zu viel. Die Impfung sei der Schlüssel im Kampf gegen die Corona-Pandemie und für den Weg "zurück ins normale Leben".

Sie verstehe die Freude über die Europameisterschaft, befürchte aber die Folgen, wenn die Zahl der Corona-Infektionen wieder zunehme, betonte Grütters. Dann könne man die Akzeptanz in der Bevölkerung für Kulturveranstaltungen mit Publikum verspielen.

Hohe Impfquote

Nach Angaben der Regierung in London haben mittlerweile 86 Prozent der Erwachsenen in Großbritannien mindestens eine Dosis eines Corona-Impfstoffs erhalten. 63 Prozent sind zweifach geimpft und damit besser geschützt. Um die Impfkampagne weiter zu beschleunigen, kündigte Johnson am Montag an, dass der Abstand zwischen den beiden Impfungen für Menschen unter 40 Jahren von zwölf auf acht Wochen verkürzt werde. Auf die hohe Impfrate wird zurückgeführt, dass die Zahl der Todesfälle und Krankenhauseinweisungen in Großbritannien trotz der steigenden Infektionszahlen vergleichsweise niedrig geblieben ist.

Offen ist noch, wie sich die Pläne auf Schulen und Reisen auswirken. Erwartet wird, dass ebenfalls vom 19. Juli an nur noch Schüler in Selbstisolation müssen, die positiv getestet werden. Ihre Klassenkameraden können dennoch in die Schulen gehen - bisher müssen sie ebenfalls in häusliche Quarantäne. Geplant ist zudem, dass vollständig Geimpfte nach ihrer Ankunft aus Ländern wie Deutschland, die auf einer "gelben Liste" stehen, nach Ankunft nicht mehr in Selbstisolation müssen.

kle/qu (dpa, afp, rtr)