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Politik

Jom Kippur 2020: Versöhnungstag im Lockdown

Tania Krämer Jerusalem
28. September 2020

Diesmal ist alles anders. Den höchsten jüdischen Feiertag umgibt ein Hauch von Trauer. Die neue landesweite Ausgangssperre und die steigenden Corona-Zahlen haben auch einen religiösen Lockdown ausgelöst.

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Israel Jerusalem | Coronavirus | Yom Kippur
Bild: Ariel Schalit/AP Photo/picture alliance

Jedes Jahr an Jom Kippur steht Israel komplett still. Der Flughafen schließt, Geschäfte sind zu, Radio- und Fernsehsender senden nicht mehr. Er gilt als der heiligste Feiertag im jüdischen Kalender, auch als "Tag der Versöhnung" bekannt, an dem die Menschen fasten, um Vergebung und "Umkehr" bitten.

In diesem Jahr findet Jom Kippur inmitten einer landesweiten Ausgangssperre statt, um die Verbreitung des Coronavirus einzudämmen. Vor über einer Woche hatte die israelische Regierung den erneuten Lockdown beschlossen, vor dem Jom Kippur Wochenende wurden die Beschränkungen nochmals verschärft.

25 Stunden Fasten

Wie jedes Jahr wird an Jom Kippur, der dieses Jahr von Sonntagabend bis Montagabend geht, für 25 Stunden gefastet. In den Synagogen finden spezielle Gebete und Gottesdienste statt. Doch dieses Jahr ist alles anders, sagt der Rabbiner Bob Carroll. Er jedenfalls wird nicht in seine Synagoge gehen.

"Als orthodoxer Jude und Mystiker habe ich schon immer daran geglaubt, dass Gott überall ist und dass er die Stimme jeder Person hört - egal, wo wir sind", sagt er am Telefon in Jerusalem, wo er für den langen Fasten-Nachmittag an Jom Kippur Texte heraussucht, die er mit seiner Frau studieren möchte.

Lockdown Yom Kippur Israel IRabbi Bob Carroll
Der orthodoxe Rabbiner Bob Carroll meint, Gott höre jede Person, egal ob er in einer Synagoge oder zu Hause betetBild: Privat

Die Synagogen dürfen an diesem Jom Kippur zwar geöffnet werden, doch unterliegen sie strikten Auflagen, damit Betende und Besucher genügend Abstand zueinander halten können. Gesundheitsexperten und Politiker, darunter auch Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, hatten die Bürger nochmals aufgefordert, zuhause zu bleiben und möglichst im Freien zu beten.

Alleine beten

Es blieb jedoch unklar, ob sich alle Gemeinschaften daran halten würden. "Meine Position in der Pandemie war die ganze Zeit, dass Menschen alleine beten sollten. Ich verstehe diejenigen nicht, die sagen, dass Gott darauf besteht, dass sie sich in einem Gebäude mit einer Gruppe von anderen aufhalten müssen", sagt Rabbiner Bob Carroll.

Er fügt hinzu, dass er froh darüber ist, das andere Rabbiner dies ähnlich sähen. "Wir jedenfalls werden zuhause im Privaten den Tag begehen und ganz Israel, das jüdische Volk auf der ganzen Welt, in unserem Herzen und in unseren Gedanken haben."

Getrennt durch eine Leinwand beten ein orthodoxer Jude und eine bewaffneter Soldat, beide mit Mundschutz | Israel Jerusalem | Coronavirus | Yom Kippur
Jom Kippur in Corona-Zeiten: getrennt durch eine Leinwand beten ein orthodoxer Jude und eine SoldatBild: Ariel Schalit/AP Photo/picture alliance

Auch viele der säkularen Israelis, die möglicherweise nicht unbedingt andere Feiertage einhalten, begehen Jom Kippur. Dass dieses Jahr alles anders ist, darüber sind sich die meisten einig: Bereits zum zweiten Mal innerhalb weniger Monate bestimmt die landesweite strikte Ausgangssperre wegen der Corona-Krise das tägliche Leben.

Proteste halten an

Die Infektionszahlen steigen indes stetig weiter, zuletzt waren es zwischen 7000 und 8000 Neuinfektionen pro Tag. Dazu kommen stetige politische Turbulenzen der Koalitionsregierung und anhaltende Proteste. Israel gilt derzeit als eines der Länder mit den weltweit höchsten Infektionsraten pro Kopf.

Niv Adi, der in einem Kibbutz im Norden Israels lebt, macht sich vor allem Sorgen wegen der allgemeinen politischen Situation: "Die Verbindung, die ich heute mit Jom Kippur sehe, ist, dass es wie 1973 ein trauriger Tag ist. Wir waren damals in der schlimmsten Situation seit der Gründung des Staates und befinden uns 2020 in einer ähnlichen Situation."

Niv Adi im Freien vor einem Spielplatz und abgestellten Fahrrädern I Lockdown Yom Kippur Israel
Kibbutz-Bewohner Niv Adi fühlt sich an Kom Kippur 1973 erinnert, als Israel von Ägypten und Syrien angegriffen wurdeBild: Privat

Dabei verweist Adi auf den arabisch-israelischen Krieg von 1973, als Ägypten und Syrien einen Überraschungsangriff gegen Israel an Jom Kippur starteten. "Der Grund ist die aktuelle politische Situation, insbesondere der Kontrollverlust der Führung mit einem Ministerpräsidenten, der wegen Korruptionsverdacht angeklagt ist, und Entscheidungen, die anscheinend nur aus eigenen, politischen Interessen heraus getroffen werden."

Demos im Autokonvoi

Adi ist besorgt über die Versuche von Teilen der Koalitionsregierung, Demonstrationen aufgrund der Pandemie einzuschränken. Vor dem Jom-Kippur-Wochenende hatte dies eine heftige politische Debatte ausgelöst, in der es um Gebetsrechte in geschlossenen Räumen einerseits und Demonstrationen in Freien andererseits ging.

In den letzten Monaten gingen Tausende von Israelis auf die Straße. Einige fordern den Rücktritt Netanjahus wegen seiner Korruptionsanklagen. Andere protestieren wegen des vermeintlichen Versagens der Regierung bei der Aufgabe, die Corona-Krise und die daraus resultierenden wirtschaftlichen Probleme in den Griff zu bekommen.

Jerusalem | Anti-Netanjahu-Protest: Eine Pappkarikatur zeigt den Ministerpräsidenten mit Dollarscheinen
Proteste gegen Ministerpräsident Netanjahu finden auch im Lockdown stattBild: Mostafa Alkharouf/AA/picture-alliance

Ministerpräsident Netanjahu und andere Politiker haben die Proteste wiederholt als Risiko für die öffentliche Gesundheit bezeichnet. Trotz eines Kabinettsbeschlusses, Demonstrationen während des Lockdowns einzuschränken, hatte die Knesset die Vorschläge nicht mehr vor dem Wochenende genehmigt.

Am Samstag demonstrierten erneut Tausende Israelis im ganzen Land - mit Autokonvois und online. Eine neue Debatte im zuständigen Knesset-Komitee ist für diese Woche geplant.

Netanjahu räumt Fehler ein

Ganz im Sinne von Jom Kippur hatten einige politische Kommentatoren den Ministerpräsidenten dazu aufgerufen, in sich zu gehen und selbst um Vergebung zu bitten. In einer kürzlich veröffentlichten Meinungsumfrage vom Israel Democracy Institute gaben nur rund 27 Prozent der Israelis an, dem Corona-Krisenmanagement von Benjamin Netanjahu noch zu vertrauen.

In einer späten Videobotschaft am Samstagabend verteidigte Netanyahu die strikteren, neuen Beschränkungen des Lockdowns, sagte aber auch, dass nach der letzten Ausgangssperre im April-Mai Fehler gemacht worden seien.

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Porträt einer Frau mit dunklen Haaren
Tania Krämer DW-Korrespondentin, Autorin, Reporterin