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Junge Menschen und die Ausbreitung der Corona-Pandemie

Elizabeth Schumacher
7. Mai 2020

Vor allem junge Menschen zwischen 20 und 24 hätten das Corona-Virus verbreitet, hieß es kürzlich unter Berufung auf eine Harvard-Studie. In der Realität ist die Sache komplizierter.

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Berlin Blüte der Zierkirschen
Bild: Reuters/M. Tantussi

Das Coronavirus hat Gesundheitssysteme auf der ganzen Welt schwer belastet und Sterberaten nach oben schnellen lassen. Regierungen sahen sich gezwungen, Ausgangs- und Kontaktsperren zu verhängen. Länder wie Südkorea, Neuseeland und Deutschland sind im Laufe der Krise in den Fokus der Weltöffentlichkeit gerückt, da hier die Pandemie relativ glimpflich verlaufen ist. Das hat das Interesse sowohl von professionellen Wissenschaftlern wie auch von Hobby-Epidemiologen geweckt.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass eine Studie für Aufsehen gesorgt hat, die sich näher damit befasst, wie die Ausgangsregeln in Deutschland befolgt werden. Demnach sollen es gerade junge Menschen sein, die sich nicht an die Kontaktverbote halten und somit das neuartige Coronavirus weiter verbreiten. Zu diesem Ergebnis kamen zwei Forscher der Universität Harvard. Sie veröffentlichten ihre Ergebnisse im "Eurosurveillance", einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift für Infektionskrankheiten und Epidemiologie. Ihre Studie erschien ausgerechnet nach einem Wochenende, an dem sich viele junge Menschen in den Parks der Großstädte vergnügt und einige auch an Anti-Lockdown-Protesten teilgenommen hatten.

Höheres relatives Risiko für junge Menschen

"20- bis 24-Jährige treiben die Corona-Pandemie in Deutschland an", titelte die Zeitung "Tagesspiegel" unter Berufung auf die Harvard-Studie. Andere Blätter berichteten ebenfalls. Aber wie belastbar ist diese Aussage, wenn man einen Blick auf die Daten wirft? Die Harvard-Epidemiologen Edward Goldstein und Marc Lipsitch hatten für ihre Studie Daten des Robert-Koch-Instituts, RKI, ausgewertet. Die Forscher nutzten COVID-19-Fallzahlen aus den letzten Märzwochen und von Anfang April. Daraus leiteten sie ab, dass das relative Risiko (RR), mit dem Coronavirus infiziert zu sein, für Menschen in Deutschland im Alter zwischen 15 und 34, besonders aber zwischen 20 und 24, auffallend höher ausfalle als bei allen anderen Altersgruppen. Die Forscher stellten ähnliche Krankheitsverläufe in Südkorea fest, wo die meisten Fälle bei Menschen zwischen 20 und 29 Jahren auftraten.

Deutschland 1. Mai Demonstration in Berlin
Social distancing war schwer bei den Demonstrationen zum 1. Mai in BerlinBild: Reuters/H. Hanschke

Fehlende Faktoren

Allerdings stellt die Studie ausdrücklich fest, dass die Forscher keine Gründe für das erhöhte Infektionsrisiko liefern konnten. Der wissenschaftliche Aufsatz geht zwar auf die Möglichkeit ein, dass die Durchmischung des Coronavirus auf eine "geringere Einhaltung der Distanzregeln für Personen im Alter von 15-34 Jahren" zurückzuführen sein könnte. Die Forscher befassten sich aber nicht mit dem Umstand, dass junge Menschen häufiger in Berufen arbeiten, bei denen sie mit vielen Menschen in Kontakt kommen, etwa in Hotels und Restaurants, im Einzelhandel und in Bussen und Bahnen. Einige dieser Sparten mussten zwar während der Corona-Krise schließen, allerdings beziehen sich die Harvard-Forscher auf Daten, die teilweise vor den Ausgangsbeschränkungen erhoben wurden. Somit könnten sich junge Menschen in dieser Zeit auf der Arbeit angesteckt haben.

Die Studie geht ebenfalls nicht darauf ein, dass junge Menschen seltener ein eigenes Auto besitzen und dementsprechend auch in der Corona-Zeit weiter öffentliche Verkehrsmittel nutzen müssen. Außerdem wird der Umstand außer acht gelassen, dass in Deutschland der Corona-Ausbruch auf junge Menschen zurückzuführen war, die aus Skigebieten in Österreich zurückkamen oder Karneval gefeiert hatten. Auch deshalb breitete sich das Virus besonders schnell in dieser Alterskohorte aus.

Österreich Corona-Pandemie Ischgl
Viele jüngere Menschen brachten das Corona-Virus aus dem Ski-Urlaub mit nach DeutschlandBild: picture-alliance/dpa/J. Gruber

Eine weitere Untersuchung macht die Sache noch komplizierter.  Sie wurde am selben Tag wie die Harvard-Studie publiziert und befasst sich mit Heinsberg, einem der Epizentren für COVID-19 in Deutschland. 9000 Einwohner der Kleinstadt waren auf das Coronavirus getestet worden. Die daraus gewonnenen Daten legen nahe, dass 20 Prozent der Infizierten asymptomatisch sein könnten - also eine Corona-Infektion durchgemacht haben, ohne etwas davon zu merken. Das könnte bedeuten, dass in Deutschland bis zu 1,8 Millionen Menschen bereits mit COVID-19 in Berührung gekommen sein könnten. Diese Zahl übersteigt die offiziellen Angaben des RKI um ein Zehnfaches. Sollten sich diese Annahmen bestätigen, würden die Schlüsse, die aus den RKI-Zahlen gezogen werden, noch spekulativer erscheinen.  

Deutschland Corona-Pandemie | Hotspot Heinsberg | Ortseingangsschild
Heinsberg - hier brach die Pandemie in Deutschland aus. Und hier sucht man jetzt Erkenntnisse für ganz DeutschlandBild: picture-alliance/dpa/J. Güttler

Viele zweifelhafte Studien

In jüngster Zeit sind auch Rufe aus der Wissenschaft laut geworden, einen kritischeren Blick auf die verschiedenen Studien zum Coronavirus zu werfen, die im Internet kursieren. Diese seien häufig noch gar nicht offiziell veröffentlicht und somit noch nicht durch einen unabhängigen Gutachter geprüft worden. Selbst bei denjenigen Studien, die bereits ein sogenanntes Peer-Review durchlaufen hätten, gebe es das Problem von zu wenigen und oft überarbeiteten Gutachtern. Dazu kommt: Die Harvard-Studie im "Eurosurveillance" wurde als sogenannte "rapid communication" gelistet, ein Ausdruck in wissenschaftlichen Zeitschriften für einen beschleunigten Peer-Review-Prozesses, um einen Artikel zu einem aktuell relevanten Thema publizieren zu können. Die Heinsberg-Studie sieht sich ähnlichen Vorwürfen ausgesetzt: Der Studie soll es an unabhängiger Prüfung mangeln.

Trotz medienwirksamer Bilder von picknickenden und protestierenden Menschen gibt es keinen wissenschaftlichen Nachweis, dass junge Leute die Abstandsregeln in Deutschland häufiger missachtet haben als Ältere. Es gibt allerdings hinreichend Beweise, dass Menschen unter 35 Jahren in besonderer Weise die wirtschaftlichen und psychischen Belastungen der Pandemie schultern. Sie gehören zu einer Generation, die ohnehin schon weniger wohlhabend ist, als ihre Eltern und Großeltern. Nun müssen sie zudem Arbeitslosigkeit und Rezession befürchten.