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Indiens Kampf

Oliver Samson20. Juli 2008

Es ist die schmutzige Seite des Wirtschaftsmärchens: Seit Jahrzehnten leistet sich Indien einen Guerillakrieg gegen linke Rebellen. Durch Milizen eskaliert der Konflikt nun - die Bevölkerung gerät zwischen die Fronten.

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Naxaliten trainieren in ChattisgarhBild: AP
Manmohan Singh
Singh: Naxaliten das größte Problem für die indische SicherheitBild: AP Photo

Sie seien die größte Gefahr für die innere Sicherheit Indiens, die es jemals gegeben habe, sagt der indische Premierminister Manmohan Singh über die maoistischen Naxaliten. Das vermag zu verwundern, hat doch Indien deutlich bekanntere Sicherheitsprobleme: islamistischen Terror, eine ganze Reihe von Unabhängigkeitsbewegungen im zerklüfteten Nordosten des Landes und die Dauerkrise im indische verwalteten Kaschmir mit zehntausenden Toten. Von dem seit Jahrzehnten schwelenden Bürgerkrieg im Osten des Landes wird dagegen außerhalb Indiens kaum berichtet.

Das Arsenal der Bürgerkriege

Tatsächlich hat die indische Zentralregierung allen Grund zur Sorge. Der Konflikt mit den linken Rebellen dreht sich in einer Eskalationsspirale, seit die Regierung des Bundesstaates Chattisgarh 2005 damit begann, mehr oder weniger versteckt Bürgerwehren auszurüsten. Mehr als 1000 Menschen starben allein in den letzten beiden Jahren. Durch die Bewaffnung von Zivilisten sollte ein militärisches Gegengewicht zu den Naxaliten aufgebaut werden. Der Plan wurde zu einer humanitären Katastrophe.

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch weist den sogenannten Sawa-Judum-Milizen in einem großangelegten, gerade erschienenen Bericht von Mitte Juli 2008 das gesamte Schreckensarsenal des Bürgerkriegs nach: Vergewaltigungen, Vertreibungen, Hinrichtungen, das Anheuern von Kindern als Hilfspolizisten. Den Naxalisten wirft Human Rights Watch ebenfalls die Rekrutierung von Kindern, Angriffe auf Zivilisten und die pauschale Exekution von Salwa Judum-Verdächtigen vor.

"Das Schlimme im Moment ist, dass hier in Chattisgarh keiner mehr neutral sein kann", sagt Meenakshi Ganguly, die für den Bericht mit ihrem Team über Monate in den abgelegenen Bürgerkriegsstaaten recherchierte. Salwa Judum verfolgen vermeindliche Naxaliten und umgekehrt - die Bevölkerung ist in diesem schmutzigen Kleinkrieg vollends zwischen die Fronten geraten. Mehr als 100.000 Menschen mussten fliehen, etwa 50.000 leben als Zwangsevakuierte in trostlosen Camps. Hunderte ihrer Dörfer wurden von den Salwa Judum im Zuge ihrer "Verbrannte-Erde-Taktik" niedergebrannt.

Naxaliten auf dem Vormarsch

Indien Bürgerkrieg Paramilitärs Naxalites
Paramilitars sichern einen Zug in JharkhandBild: AP

Gegen die Rebellen konnten die Bürgerwehren im extrem armen und unterentwickelten Chattisgarh allerdings nichts ausrichten, im Gegenteil.

Die Naxaliten, benannt nach einem Aufstand im Bezirk Naxalbari im Bundestaat West-Bengalen 1967, breiten sich immer weiter aus. Sie sind inzwischen in einem Drittel aller Distrikte und in der Hälft der 29 indischen Bundessaaten aktiv. Man spricht sogar von einem "Roten Korridor", der sich von der nepalesischen Grenze bis in den südindischen Bundesstaat Karnataka zieht.

Minen gegen die Polizei

Die Observer Research Foundation in Neu-Dehli schätzt die Zahl der Naxaliten auf etwa 10.000 spärlich ausgerüstete Guerilla-Kämpfer und etwa 40.000 Kader. Häufig benutzen sie Landminen und Handgranaten gegen Sicherheitskräfte, Regierungsgebäude, Eisenbahnlinien und Fabriken. Jedes Jahr werden tausende von Guerilla-Aktionen der Naxaliten gemeldet, die an Brutalität nicht hinter den Bürgerwehren zurückstehen. Ihnen gelangen aber auch schon spektakuläre Aktionen wie etwa eine Befreiung von 350 Gefangenen. 24 Polizisten starben zuletzt Mitte Juli in einem abgelegenen Teil des Bundesstaat Orissa, als eine Landmine unter deren Fahrzeug detonierte. Zwei Wochen zuvor hatten die Rebellen im selben Distrikt bei einem Überfall auf eine Elite-Einheit 38 Polizisten getötet.

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Mit Sturmgewehr und Pfeil und Bogen: Paramilitärs in Dantewar, Andhra PradeshBild: AP

Die Ursache des Bürgerkriegs liegt in der katastrophalen sozialen und wirtschaftlichen Lage, wie Premier Manmohan Singh 2006 in einer Rede vor den Ministerpräsidenten der von maoistischer Gewalt betroffenen Staaten zugab. Sie habe maßgeblich zum Erstarken der Naxaliten-Bewegung beigetragen.

Die Bevölkerung in den besonders betroffenen Bundesstaaten wie Orissa, Chattisgarh oder Jharkand hat noch sehr wenig vom Boom Indiens abbekommen, obwohl dort gigantische Vorkommen an Bauxit, Eisenerz und Kohle lagern - deren Ausbeutung von einer massiven Vertreibung der einheimischen Bevölkerung begleitet wird. Millionen verloren ohne Entschädigung Land und Lebensraum.

"Das schlechte Gewissen"

Die Naxaliten hingegen verstehen sich als Kämpfer gegen Armut, Ausbeutung und Unterdrückung der niederen Kasten und der in Ost-Indien beheimateten Stammesbevölkerung der Adivasi.

"Sie sind das schlechte Gewissen Indiens, das immer wieder brutal an die ungelösten sozio-ökonomischen Probleme des Landes erinnert", sagt Christian Wagner, Indien-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.

Karte Indien Bundesländer Andhra Pradesh Chhattisgarh Orissa deutsch

Rote Fahne über Delhi?

Einen dauerhafte Verständigung mit den Rebellen hat bisher noch keine Staatsregierung geschafft. Human Rights Watch verlangt nun von der indischen Regierung, die Unterstützung für die Milizen einzustellen. Die verantwortliche Staastregierung von Chatisgarh hatte die Salwa Judum bisher aber immer als Erfolg bezeichnet. Polizei-Chef Vishwa Ranjan lässt sich nun zitieren, dass die Regierung antworten werde, nachdem sie den Bericht analysiert habe.

Für Frieden bräuchte es hingegen, darin sind sich alle Experten einig, eine Beseitigung der groben Ungerechtigkeiten. "Doch die politische Kraft etwa für eine Landreform ist nirgends zu entdecken", sagt Indien-Experte Wagner. Sie ist vielleicht eben so fern, wie das Ziel, das die Naxaliten ernsthaft ausgegeben haben: Irgendwann, so lautet aus ihrem Führungskreis, soll die Rote Fahne über der indischen Hauptstadt Delhi wehen.