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Guyana kämpft gegen Selbstmorde

Sandra Weiss
19. September 2020

Guyana hat eine der höchsten Selbstmordraten der Welt. Das Problem war dem Land in Südamerika unbekannt. Kampagnen, eine Hotline und privat unterstützte Zentren haben Abhilfe geschaffen. Gefährdet nun Corona den Erfolg?

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Südamerika Guyana | Gespräche und Handarbeit| Selbstmordrate
Fortbildungskurse, etwa Nähen oder Kochen und Gesprächstherapie haben vielen Selbstmordgefährdeten geholfen Bild: DW/S. Weiss

"Herzlich willkommen", lächelt Meena Wattie, als sie aus dem schmucken, weißen Holzhäuschen tritt. Dabei strahlt die kleine, dunkelhaarige Frau mit Brille so viel Wärme und Zuversicht aus, wie der Name ihres Zentrums verheißt: "Sunrise Center". Der Optimismus ist hier Programm, denn das Zentrum in Zorg-en-Vliet, einem winzigen Nest an der Nordküste von Guyana, therapiert Selbstmordgefährdete.

Noch vor einigen Jahren stand die heute so zuversichtliche Leiterin selbst kurz davor, sich das Leben zu nehmen. Heute hilft sie anderen. Guyana, das 780.000 Einwohner zählende Land an der Nordküste Südamerikas, hat eine der höchsten Selbstmordraten der Welt. 44 von 100.000 Menschen nehmen sich dort das Leben laut einer Statistik der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von 2014. Das war damals Platz eins. Der weltweite Durchschnitt liegt bei 16 Suiziden pro 100.000 Menschen.

Südamerika Guyana | Gespräche und Handarbeit| Selbstmordrate
Meena Wattie - Leiterin des Sunrise CentersBild: DW/S. Weiss

Die Gründe dafür sind vielfältig: "Alkohol- und Drogenmissbrauch, Gewalt innerhalb der Familie, Armut, wenig sozialer Zusammenhalt in einer rassisch polarisierten Gesellschaft, kriminalisierte Homosexualität, Stigmatisierung psychisch Kranker und fehlende Behandlungsmöglichkeiten vor allem abseits der Hauptstadt Georgetown", zählt die Psychologin Caitlin Vieira auf.

Bei Meena war es der Tod ihres alkoholabhängigen Mannes und die starren, frauenfeindlichen Regeln innerhalb ihrer Gemeinschaft der Indo-Guyaner, die sie aus der Bahn warfen. Das Paar hatte in einem Haus auf dem Grundstück ihrer Schwiegereltern gewohnt. "Mein Mann starb um Mitternacht. Um sechs Uhr morgens warfen seine Eltern mich hinaus", erzählt Meena. "Du stürzt in ein schwarzes Loch und siehst kein Licht mehr. Aber ich hatte glücklicherweise Menschen, mit denen ich reden konnte, und das half mir."

Zuhören und Handarbeit als Erfolgsrezept

Gesprächstherapie und Diskretion sind das Erfolgsrezept des Sunrise-Centers, das 2016 eröffnete und von wohlhabenden Exilguyanern der Guyana Foundation finanziert wurde. Hausbesuche sind ebenso Bestandteil des Therapieangebots wie Yoga und Fortbildungskurse, etwa Nähen, Kochen, Kunsthandwerk oder Kosmetikkurse.

Handwerkliche Arbeiten in Gemeinschaft sollen nicht nur den Geist entspannen und eine freundliche, geborgene Atmosphäre schaffen, sie sind zugleich berufliche Fortbildung und ermöglichen den Teilnehmern anschließend, auch wirtschaftlich unabhängiger zu werden. Vor allem Frauen nutzen das Angebot. "Sie sind offener und lassen sich eher helfen", hat Meena festgestellt.

Eine der Teilnehmerinnen ist Natiefah John, eine 20-jährige Afro-Guyanerin. Vor drei Jahren kam sie, nachdem sie im Radio von dem Zentrum gehört hatte. Kurz davor hatte sie sich ihre Pulsadern aufgeschnitten, den Suizid-Versuch aber überlebt. Mit 13 war sie zum ersten Mal sexuell missbraucht worden, mit 17 zum zweiten Mal. Ihre Mutter musste aus der Hauptstadt vor einem prügelnden Ehemann fliehen, der große Bruder war drogenabhängig, das Geld reichte hinten und vorne nicht.

"Zum ersten Mal konnte ich hier mit jemand über meine Erfahrungen reden, das war eine unglaubliche Erleichterung", erzählt John. Die frisch verheiratete junge Mutter hat im Sunrise-Center einen Kosmetikkurs absolviert und spart, um zuhause einen Schönheitssalon einzurichten.

Südamerika Guyana | Gespräche und Handarbeit| Selbstmordrate
Hat durch das Angebot des Sunrise Centers neue Hoffnung geschöpft - Natiefah John, hier mit ihrem BabyBild: DW/S. Weiss

Ein unbekanntes Problem

Dem Staat, der zu den ärmsten Ländern Südamerikas zählt, war die hohe Selbstmordrate überhaupt nicht als Problem präsent. Die Familien verschwiegen oft aus Scham den Selbstmord von Angehörigen, in den Todesurkunden wurden beschönigende Gründe angegeben. Landesweite Aufmerksamkeit erhielt das Problem erst durch eine Erhebung der WHO. Dabei kam heraus, dass vor allem die von der Landwirtschaft lebende indo-guyanische Bevölkerung mit 75 Prozent der Fälle betroffen ist. Die Region 2, in der Zorg-en-Vliet liegt, hat dabei die höchste Rate des Landes. Vergiften und Erhängen sind die häufigsten Todesarten.

Konservative Familienwerte der Indo-Guyaner, arrangierte Ehen und wenig Privatsphäre gehören nach Ansicht von Psychologin Vieira zu den sozio-kulturellen Hintergründen. Ein Viertel der Bewohner des Landes, schätzt ihr Kollege Anthony Autar, leidet unter nicht diagnostiziertem post-traumatischem Stress, der zu Gewalttätigkeit und hohen Selbstmordraten führt.

Nach der WHO-Studie und Agenturmeldungen begann auch die heimische Presse, über das Phänomen zu berichten. Das hatte allerdings auch Nebeneffekte, wie die Journalistin Reema Natram einräumt. "Anfangs schilderten wir, wie sich die Menschen umbrachten, was dann aber zu Nachahmungstaten führte." Auch wurden die Namen der Opfer genannt, was ganze Familien stigmatisierte und weitere Familienmitglieder in den Tod trieb.

Das änderte sich durch einen Workshop für Journalisten. Die Regierung richtete außerdem 2015 eine Selbstmord-Hotline ein, die Vieira bis vor kurzem managte. Die Arbeit des Zentrums, die Helpline und die Öffentlichkeitsarbeit von Psychologen wie Vieira zeitigt inzwischen sichtbare Erfolge: Voriges Jahr rutschte Guyana in der internationalen Selbstmordstatistik auf Platz vier.

Ein Rückschlag durch die Pandemie?

Doch die Pandemie und politische Querelen gefährden nun die Fortschritte. Nach monatelangem politischen Streit nach der Wahl, stockte in Guyana das Programm für mentale Gesundheit. Bis heute gibt es nur zwei Therapiezentren für Selbstmordgefährdete im ganzen Land und nur sieben Psychologen. Die Spenden sind wegen der Wirtschaftskrise rückläufig, das Sunrise-Zentrum stellte anfangs immerhin noch Gesichtsmasken her, um sich zu finanzieren.

"Jetzt sind wir geschlossen, dabei bräuchten so viele Menschen wie nie gerade jetzt psychologische Unterstützung", schrieb Meena Wattie per Whatsapp. Per Telefon halten sie und ihr Team Kontakt zu den Patienten, "Wenn es ganz kritisch wird, machen wir auch Hausbesuche", erzählt sie. Psychologin Vieira ist gefrustet: "Gerade jetzt, wo wir alle so unter Stress stehen, wurden mir Aufträge gestrichen und die Arbeit von uns Psychologen für nicht systemrelevant erklärt", klagt sie per Facebook. "Was braucht unsere Gesellschaft noch, um zu merken, wie wichtig psychische Gesundheit ist?"

Die Deutsche Welle berichtet zurückhaltend über das Thema Suizid, da es Hinweise darauf gibt, dass manche Formen der Berichterstattung zu Nachahmungsreaktionen führen können. Sollten Sie selbst Selbstmordgedanken hegen oder in einer emotionalen Notlage stecken, zögern Sie nicht, Hilfe zu suchen. Wo es Hilfe in Ihrem Land gibt, finden Sie unter der Website https://www.befrienders.org/ . In Deutschland hilft Ihnen die Telefonseelsorge unter den kostenfreien Nummern 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222.