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Politik

"Der Schießbefehl ist ein neuer Kurs"

Elena Gunkel
7. Januar 2022

Die Unruhen in Kasachstan sind teils politisch, teils durch Preiserhöhungen motiviert. Und Präsident Tokajew habe sie vermutlich kommen sehen, sagt Christoph Mohr von der Friedrich-Ebert-Stiftung im DW-Gespräch.

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Kasachstan | Proteste | Soldaten
Bild: Russian Television/AP/picture alliance

Deutsche Welle: Die Ereignisse in Kasachstan überschlagen sich. Vor wenigen Tagen sind die Menschen dort gegen Preiserhöhungen beim Autogas auf die Straße gegangen. Seitdem gibt es im ganzen Land Unruhen. Heute hat der Präsident den Sicherheitskräften den Schießbefehl erteilt. Wie schätzen Sie die Lage ein? Wie ist diese rasante Entwicklung möglich geworden?

Christoph Mohr: Die Lage ist nach wie vor sehr unübersichtlich. Kasachstan wird seit Tagen von beispiellosen Zusammenstößen zwischen Demonstrierenden und Sicherheitskräften erschüttert. Kasachstan hat erst vor wenigen Wochen die 30-jährige Unabhängigkeit gefeiert. Nie zuvor gab es im größten Land Zentralasiens solche Proteste. Ihr Ausmaß, das Tempo und die Eskalation sind beispiellos.

Sie kommen überraschend, aber nicht unerwartet. Die Gründe sind erst einmal sozioökonomische. Das ist für viele der Hauptmotivationsgrund. Allerdings sind die Demonstrierenden keine homogene Gruppe. Es mischen sich zunehmend andere Interessen mit ein. Das sind zum Beispiel Forderungen nach stärkeren Partizipationsmöglichkeiten, politischer Transformation, gar nach Systemwandel. Wir haben gesehen, dass Statuen des ersten Präsidenten Nursultan Nasarbajew gestürzt worden sind. Ein Teil der Menschen sind kriminelle Elemente, die plündern, die Gewalt anwenden. Es gibt niemanden, der eine allgemeine Stimme für diese Gruppe darstellt.

Stehen politische Forderungen also nicht im Vordergrund?

Es hängt davon ab, wen man fragt. Das ist vielleicht auch lokal unterschiedlich. Da mögen sich die urbanen Zentren wie Almaty von anderen Regionen wie Mangghystau unterscheiden (Ölregion im Westen Kasachstans, wo die Proteste begonnen haben, Anm. d. Red.).

Christoph Mohr | Regionaldirektor Kasachstan, Usbekistan | Friedrich-Ebert-Stiftung
"Eskalation kein Ausweg": Christoph Mohr, Regionaldirektor Kasachstan und Usbekistan der Friedrich-Ebert-StiftungBild: Friedrich Ebert Stiftung

Ich würde vermuten, dass dort die wirtschaftlichen Gründe im Vordergrund stehen. Das ist eine Region, die in den vergangenen Jahren, in denen Kasachstan als Land sehr viel Aufschwung erfahren hat, zurückgeblieben ist, wo die Menschen sehr alltägliche Probleme haben - hohe Mieten, Energie- und Lebensmittelpreise. Während Bürger in der Wirtschaftsmetropole Almaty schon 2019 während des Machtwechsels von Nasarbajew zum jetzt amtierenden Kassym-Jomart Tokajew andere Gründe genannt haben - mehr Teilhabe, ein Systemwandel, eine Abkehr vom System Nasarbajew, das dieses Land 30 Jahre dominiert hat.

Präsident Kassym-Jomart Tokajew bezeichnet die Protestierenden inzwischen als "Terroristen". Am Anfang hat er aber die Bereitschaft gezeigt, auf ihre Forderungen einzugehen. Er hat die Gaspreiserhöhung zurückgenommen, die Regierung ist zurückgetreten. Was ist seine Strategie?

Es gibt viele Spekulationen, ob Tokajew, der zweite Präsident in der Geschichte des Landes, die Kontrolle über alle Teile des Staates hat. Es gibt eine Diskussion darüber, ob er in einem offenen Konflikt steht mit dem ersten Präsidenten, seinem einstigen Verbündeten Nasarbajew. Ich halte es für zu früh, hier eine konkrete Aussage zu treffen.

Deutlich ist aber, dass Tokajew in den vergangenen Monaten immer wieder versucht hat, in die Zivilgesellschaft hineinzuhorchen, um gerade solche Demonstrationen nicht ausbrechen zu lassen. Er nennt diese Strategie den "zuhörenden Staat". Ich glaube schon, dass er über das Konfliktpotenzial in der kasachischen Gesellschaft Bescheid wusste und Protesten vorgreifen wollte. Das ist nicht gelungen. Dass er dann als erste Reaktion einen Schritt auf die Demonstrierenden zugeht, halte ich für richtig. Mit dem Schießbefehl kann man jetzt davon ausgehen, dass die Regierung einen anderen Kurs eingeschlagen hat.

Was wäre ein Ausweg aus der Krise? Welche Rolle könnte die EU spielen?

Die Botschaften der EU gingen alle in die gleiche Richtung: dass ein Dialog zwingend notwendig und der einzige Ausweg ist. Ich glaube nicht, dass zunehmende Gewalteskalation ein Ausweg aus dieser systemischen Krise sein kann.

Mehrere Länder, vor allem Russland, haben Militärs nach Kasachstan geschickt. Versucht Moskau, seinen Einfluss auszubauen?

Die Intervention des OVKS (des von Moskau geführten Bündnisses Organisation des Vertrages über die kollektive Sicherheit, Anm. d. Red.), das auch russische NATO genannt wird, stellt ein Novum dar. Natürlich hat der Konflikt dadurch eine andere, eine geopolitische Dimension erhalten. Ich glaube, dass wir im Moment nicht einschätzen können, wie genau sich das Mandat darstellen wird, was die genauen Aufgaben sein werden und wie lange dieser Zustand anhält.

Russland Soldaten der Luftlandetruppen auf Weg nach Kasachstan
Hilfe aus Moskau: Russische Soldaten der Luftlandetruppen auf Weg nach KasachstanBild: Russian Defence Ministry/Tass/imago images

Sicher ist, dass für Moskau Kasachstan ein ganz zentrales Land ist, die institutionelle Anbindung ist sehr groß. Moskau hat ein sehr großes Interesse an der Stabilität Kasachstans. In Kasachstan hat man über Jahre versucht, eine multivektorale (unabhängige, Anm. d Red.) Außenpolitik zu betreiben. Man hat sehr gute Beziehungen zu China aufgebaut. Man arbeitet sehr stark mit dem Westen zusammen. Die jetzige Hinwendung Richtung Moskau ist ein zweischneidiges Schwert. Man könnte vermuten, dass dadurch der Einfluss Moskaus wachsen wird. Ich halte es aber für zu früh, das abschließend zu bewerten.

Das Gespräch führte Elena Gunkel.

Christoph Mohr ist Regionaldirektor der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) für Kasachstan und Usbekistan.