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Politik

Die ausgesetzte Unabhängigkeit

Mariel Müller Barcelona
11. Oktober 2017

Der katalanische Präsident Puigdemont hat im Parlament die Unabhängigkeit erklärt - und sogleich ausgesetzt. Anhänger reagierten enttäuscht, Gegner erleichtert, viele sind schlicht verwirrt. Aus Barcelona Mariel Müller.

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Spanien Parlament in Barcelona Carles Puigdemont
Bild: Reuters/A. Gea

Vor den Abgeordneten des Regionalparlaments sagte der katalanische Regierungschef in seiner Rede, er nehme das "Mandat" der Katalanen für eine Unabhängigkeit von Spanien an. Zugleich bat er die Abgeordneten aber darum, die Unabhängigkeitserklärung zunächst "auszusetzen", um in den kommenden Wochen einen Dialog mit Madrid einleiten zu können. Die Reaktion aus Madrid auf diese Erklärung ließ nicht lange auf sich warten: "Es ist nicht zulässig, implizit die Unabhängigkeit zu erklären und diese dann explizit auszusetzen", erklärte ein Regierungssprecher in Madrid.

Ministerpräsident Mariano Rajoy berief eine Sondersitzung des Ministerrats ein, um über die Reaktion Madrids auf Puigdemonts Aussagen zu beraten. Laut Beobachtern könnte die Einberufung des Ministerrats der erste Schritt sein, um Artikel 155 der spanischen Verfassung anzuwenden und damit die Regionalregierung Kataloniens zu entmachten. Auch eine Festnahme Puigdemonts und seiner separatistischen Verbündeten ist nicht ausgeschlossen. Aber selbst die härtesten Gegner der Unabhängigkeitbestrebungen würden diesen Schritt nicht gutheißen, sagte der Vorsitzende des katalanischen Ablegers von Rajoys konservativer Regierungspartei Partido Popular (PP), Xavier García Albiol.

"Anschlag auf den gesunden Menschenverstand”

Die stellvertretende Ministerpräsidentin Soraya Sáenz de Santamaria sagte in Reaktion auf Puigdemonts Rede: Er wisse offensichtlich nicht, "wo er steht, wohin er geht und mit wem er gehen will". Rajoys Regierungspartei kritisierte das Vorgehen Puigdemonts im Kurzbotschaftendienst Twitter als "Anschlag auf den gesunden Menschenverstand". Der Chef der Sozialisten in Katalonien, Miquel Iceta, zeigte sich amüsiert über die "komplexe" Ausdrucksform des katalanischen Präsidenten und bekräftigte mit Nachdruck und in Katalanisch, Spanisch und Englisch: "Eine Minderheit kann sich nicht über eine Mehrheit erheben."

Spanien Parlament in Barcelona Großkundgebung
Politik statt Fußball: Menschenmassen beim Public Viewing in BarcelonaBild: Reuters/S. Vera

Die an der katalanischen Regierungskoalition beteiligte Linkspartei CUP kritisierte heftig, dass es keine sofortige Unabhängigkeitserklärung gab. "Heute war der Tag, um feierlich eine katalanische Republik auszurufen", sagte die CUP-Abgeordnete Anna Gabriel. Gemeinsam mit ihren Kollegen der CUP hatte sie demonstrativ als letzte das Parlament betreten, um ihren Unmut deutich zu machen. Die CUP ließ verlauten, die Aussetzung der Unabhängigkeitserklärung sei ein "unzumutbarer Verrat".

"Es wird keine Republik Katalonien geben”

Das Parteienbündnis "Junts pel Sí", das hinter den Unabhängigkeitsbestrebungen steht, ist tief gespalten, sagen Beobachter. Besonders der drohende Abzug Dutzender Banken und Unternehmen aus Katalonien soll den entscheidenden Wendepunkt markiert und Puigdemont unter Druck gesetzt haben, die Unabhängigkeit nicht zu erklären. Puigdemont ist gezwungen, einen politischen Spagat zu vollführen, sagte Xavier García Albiol, Präsident der katalanischen PP. Nach der Rede Puigdemonts richtete er klare Worte an den katalanischen Präsidenten: Egal ob sofort, phasenweise oder irgendwann in der Zukunft, "es wird keine unabhängige Republik Katalonien in Spanien geben".

Ines Arrimadas, Oppositionsführerin der Ciudadanos Partei im Parlament, kritisierte Puigdemont ebenfalls scharf: "Sie haben Unternehmen dazu gebracht, dass sie von hier fliehen. Sie haben es geschafft, das sich die katalanische Gesellschaft spaltet." Die meisten Katalanen fühlten sich als Spanier, Katalanen und Europäer, und das werde er nicht ändern können, sagte sie.

Der Führer der größten und einflussreichsten Bürgerbewegung, Òmnium Cultural, die regelmäßig mehrere Hunderttausende Unabhängigkeitsanhänger mobilisiert, zeigte sich dagegen zufrieden: "Wir sind überzeugt, dass niemand in Katalonien unzufrieden sein kann mit diesem Vorschlag zum Dialog."

Enttäuschung bei den Anhängern

"Für mich ist das eine intelligente Entscheidung", findet auch Marc Medina, freischaffender Fotograf. Er hatte mit Freunden am Abend des Referedums das vorläufige Ergebnis auf der Plaza Catalunya gefeiert. "Eine 'echte' Unabhängigkeitserklärung hätte nur Öl ins Feuer gegossen und das wollen wir nicht. Wir wollen Dialog. Jetzt ist der Ball auf Seiten der spanischen Regierung."

Albert Vallbona ist glühender Unabhängigkeitsbefürworter und nimmt seit Jahren an Unabhängigkeitsdemonstrationen teil; er ist ebenfalls zufrieden mit der Rede Puigdemonts: "Nach so vielen Jahren Warten kommt es jetzt nicht mehr auf ein paar Wochen an." Trotz Aussetzung verleihe die Erklärung den Befürwortern der Unabhängigkeit Legitimität und Anerkennung, sagt er, auch wenn er nicht glaubt, dass die spanische Regierung zu Gesprächen bereit sein wird. "Wir warten darauf, dass sie uns das endgültige 'Nein' geben, dann erklären wir die Unabhängigkeit unilateral."

Spanien Parlament in Barcelona Großkundgebung
Da waren sie noch begeistert: Befürworter der katalanische Unabhängigkeit während Puigdemonts RedeBild: Reuters/I. Alvarado

Andere sind weniger zufrieden. Anna Arqué, führende Aktivistin der Unabhängigkeit, bestätigt, dass viele Menschen sehr enttäuscht von der verschobenen Loslösung seien. Das konnte man auch in den Gesichtern der Zuschauer sehen, die sich unweit des Parlaments zum Public Viewing der Rede Puigdemonts eingefunden haben. Nach frenetischem Applaus und Freudenschreien verflog die Ausgelassenheit, als der katalanische Präsident zum zweiten Teil der Erklärung kam. Die Mienen waren zum Teil geschockt, viele pfiffen Puigdemont aus.

Hoffnung auf europäische Hilfe

Marta, die ihren Nachnamen nicht nennen will, ist verwirrt. Sie sagt, sie habe nicht ganz verstanden, was das nun für die nahe Zukunft bedeute. So geht es vielen, die Puigdemonts Rede gelauscht haben. "Ich bin sicher nicht erleichtert, dass es keine unmittelbare Unabhängigkeit gibt." Eine Unabhängigkeitserklärung auf Zeit sei immer noch eine illegale Unabhängigkeitserklärung.

Für Roig, 31, Projektmanager, hat Europa in diesem Fall versagt. "Wenn Spanien weiterhin nicht verhandeln will, wird es endlich Zeit, dass irgendjemand in Europa aufwacht und sieht: Die Katalanen sollen wenigstens das Recht bekommen, legal wählen zu dürfen."

Mariel Müller, DW Ostafrika-Büroleiterin
Mariel Müller Chefin des DW- Büros Ostafrika@_MarielMueller