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Politik

"Das unbekannte Desaster" für Katalonien

Mariel Müller
8. Oktober 2017

Mehrere Tausend Katalanen haben in Barcelona für einen Dialog und gegen weitere Konfrontationen in der aktuellen Krise protestiert. Ihre Forderung: "Mehr Lösungen, weniger Egos." Aus Barcelona Mariel Müller.

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Spanien Barcelona Demonstration in Weiß für Dialog
Bild: Getty Images/C. McGrath

Ein Meer aus weißen T-Shirts. Es soll ein Zeichen des Friedens sein, auf der Plaça Sant Jaume im Zentrum Barcelonas. Auf dem Platz zwischen katalanischem Präsidentenpalast und Barceloner Rathaus sind tausende Menschen dem anonymen Aufruf zum Protest gefolgt. Ihr Ziel ist es, Politiker beider Seiten, den Ministerpräsidenten Mariano Rajoy und den katalanischen Präsidenten Carles Puigdemont zum Dialog aufzufordern.

"Die beiden müssen sich endlich zusammensetzen und miteinander reden, so geht das nicht weiter", sagt ein Mann, der mit seiner Tochter auf den Schultern zum Protest gekommen ist. Er hätte zwar eine Haltung zur katalanischen Unabhängigkeit, aber die tue hier nichts zur Sache. "Hätte ich hier auch nur eine Flagge gesehen, egal ob spanisch oder katalanisch - ich wäre ich sofort wieder gegangen", sagt er. Fahnen gibt es zwar auch hier, aber eben nur weiße. Auf ihnen steht "Parlem" und "Hablamos": Katalanisch und Spanisch für "Lasst uns sprechen".

"Wir sind die schweigende Mehrheit"

Eine junge Frau erklärt: "Das ist eine Bewegung des Volkes und nicht von irgendwelchen politischen Parteien." So sei auch zu erklären, warum die Kundgebung vergleichweise klein ausfällt, wenn man an die Massendemonstrationen der "Sí”-Kampagne in den Tagen vor und nach dem Referendum denke. Ohne Parteien und Organisationen ließen sich nur schwer Hunderttausende mobiliseren, so die Demonstrantin. Recht hat sie: Nach knapp drei Stunden ist alles wieder vorbei und der Platz wird, wie üblich, wieder zur Bühne für Frischverheiratete und ihre Konfettikanonen.

Spanien Friedlicher Protest vor dem Präsidentenpalast in Barcelona
Friedlicher Protest vor dem Präsidentenpalast in Barcelona: Die Menschen fordern DialogBild: DW/M. Müller

Was wird passieren, wenn der katalanische Präsident Puigdemont kommenden Dienstag die Unabhängigkeit deklariert? Wird die spanische Regierung Verfassungsartikel 155 anwenden und Kataloniens Autonomie aufheben? Viele sind besorgt: Wird Puigdemont dann verhaftet? Wie werden seine Anhänger reagieren? Wird es wieder Gewalt geben? Alles Fragen, die sich die Demonstranten in weiß hier stellen. Eine Antwort höre ich aber immer wieder, klar und deutlich: "Die Politiker sollen ihren verdammten Job machen, und zwar für uns, das Volk entscheiden lassen und nicht um jeden Preis ihre politischen Ziele durchsetzen”, sagt mir eine aufgebrachte Frau.

Denn der Wille des Volkes sei ganz bestimmt nicht die Unabhängigkeit. "Wir sind die schweigende Mehrheit. Wir sind die anderen 60 Prozent, die nicht zur Wahl gegangen sind oder "nein” gewählt haben.” Tatsächlich sagen mir fast alle der weißen T-Shirt-Träger, sie seien klar gegen eine Abspaltung von Spanien.

Spanien Friedlicher Protest vor dem Präsidentenpalast in Barcelona
In Sorge vor dem "Desaster": Demonstrantinnen in BarcelonaBild: DW/M. Müller

Klar für eine Abspaltung sind laut katalanischer Regierung 90 Prozent der Katalanen, die am 1. Oktober in dem umstrittenen Referendum abgestimmt haben. Das seien rund 43 Prozent aller wahlberechtigten Katalanen gewesen.

Dazu zählten aber auch viele Katalanen, die mit sich verhandeln ließen, sagt Oriol Bartomeu, Politikwissenschaftler an der Autonomen Universität Barcelona. "Die Mehrheit der Katalanen wollen in Spanien bleiben, wenn die Autonomiestellung Kataloniens innerhalb des Landes gestärkt wird und wenn sich Spanien hin zu einem wirklich pluralistischen Staat reformiert.” Hätte die Regierung in Madrid das schon vor Jahren gemacht, sähe die Situation heute ganz anders aus, so der Experte.

"Die spanische Seite hat das Gefühl zu gewinnen”

Spanien Barcelona Politikwissenschafter Oriol Bartomeu
Bartomeu: “Die spanische Regierung wird nicht verhandeln”Bild: DW/Mariel Müller

Zur Zeit sieht die Situation aber nun einmal so aus, dass Madrid sich keinen Zentimeter bewegen will. "Die spanische Seite hat das Gefühl, sie hat die Möglichkeit, zu gewinnen. Warum sollte sie also nachgeben?” Sie vertrete die Meinung: Entweder die katalanische Seite gibt komplett auf - oder sie erklärt einseitig die Unabhängigkeit. "Und das wäre wirklich riskant für die katalanische Regierung, weil es keine Mehrheit in der katalanischen Bevölkerung gibt, die das unterstützt”, so Bartomeu. In der Folge würde die spanische Regierung Artikel 155 der Verfassung anwenden. Und dann? Bartomeus: "Das ist das unbekannte Desaster.”

Ausschlaggebend dabei könnte die linke CUP sein, die Partei "Kandidatur der Volkseinheit”. Sie sichert Präsident Puigdemont die Mehrheit im katalonischen Parlament. CUP-Sprecher Quim Arrufat sagt, er wolle "keine unilateralen Schritte machen”. Erst recht nicht nach der Repression, die vom spanischen Staat vor und am Tag des Referendums ausgegangen sei. "Wenn sich auf der spanischen Seite aber etwas bewegt, dann warten wir und sehen, was passiert.” Für Dialog stünden sie bereit, sagt Arrufat.

Spanien CUP-Sprecher Quim Arrufat in Barcelona
Will keine "unilateralen Schritte": Parteisprecher Quim ArrufatBild: DW/M. Müller

Separatistenbewegung könnte sich radikalisieren

Am Ende gehe es bei der Frage der Unabhängigkeitserklärung aber nicht mehr um die Frage "ob”, denn das sei sicher, sondern um das "wann”. Am Dienstag, wenn Präsident Puigdemont im katalonischen Parlament spricht, werde es wohl aber noch nicht so weit sein, sagt Arrufat. Wird Puigdemont einen Rückzieher machen? "Nein”, lautet die bestimmte Antwort des Parteisprechers.

Politikwissenschaftler Bartomeu sieht die Sache problematisch. "Wenn die Regierung Puigdemont sagt: Vergessen wir das mit der Unabhängigkeit, dann hat sie ein Problem. Denn sagen können sie das zwar ruhig, aber die zwei Millionen Separatismus-Anhänger werden deshalb nicht aufhören zu demonstrieren, im Gegenteil.” Die katalonische Regierung drohe dann die Kontrolle zu verlieren. "Die Bewegung würde zwar kleiner werden, aber dafür umso radikaler”, warnt Bartomeu. "Und dann kann keiner mehr Gewalt zwischen Separatisten und Polizei ausschließen.”

Mariel Müller, DW Ostafrika-Büroleiterin
Mariel Müller Chefin des DW- Büros Ostafrika@_MarielMueller