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Literatur

Katy Derbyshire: Wo bleiben die Frauen und ihre Bücher?

2. Oktober 2018

Der Kampf gegen Vorurteile ist noch lange nicht beendet. Aber es gibt großartige deutschsprachige Autorinnen, findet die britische Übersetzerin Katy Derbyshire, und inzwischen werden sie auch mehr publiziert.

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Bildkombo: Schriftstellerinnen (DW)
Olga Grjasnowa, Julia Franck, Inka Parei, Cornelia Funke, Esther Kinsky, Jenny Erpenbeck, Alina Bronsky, Ilse AichingerBild: DW

Wenn Sie nur ein bisschen sind wie ich, sind Sie Erbsenzählerin – beziehungsweise Frauenzählerin. Natürlich haben Sie gezählt, wie viele Schriftstellerinnen auf dieser Liste der 100 deutschen Must-Reads stehen, und Sie sind auf 32 gekommen. Hm, werden Sie sich gedacht haben, etwas weniger als ein Drittel – das erscheint irgendwie nicht richtig. Wenn Sie nur ein bisschen sind wie ich, dann ärgert Sie diese Zahl.

Ich muss Ihnen allerdings sagen, ärgern Sie sich nicht über die Menschen, die die Liste erstellt haben! Wütend können Sie auf jeden Fall auf die ganze Welt sein, und zwar die der letzten 118 Jahre. Auf die Verlagsbranche, die so lange gebraucht hat – in Deutschland und anderswo – bis sie erkannt hat, dass Frauen gut schreiben. Seien Sie wütend über sexistische Strukturen, die Frauen zurückdrängen und uns so daran hindern, ihre Werke zu lesen. Denn traurigerweise – schockierenderweise – stimmt diese Zahl, 32 Prozent, genau: Das ist statistisch der Anteil der von Frauen geschriebenen Bücher an allen Übersetzungen ins Englische.

Katy Derbyshire
Bild: University of Warwick

Deutsche Belletristik-Verlage ziehen männliche Autoren vor

Diese Geschichte hat zwei Seiten. Als Erbsenzählerin zähle ich auch regelmäßig die Zahl der deutschsprachigen Schriftstellerinnen, die überhaupt veröffentlicht werden. In diesem Herbst habe ich in einer Auswahl von 35 Hardcover-Buchkatalogen 37,5 Prozent weibliche Autoren gezählt. Wir reden vom Herbst 2018. Dieses Ungleichgewicht ist vor allem auf Prosaliteratur zurückzuführen, in der die Listen in Deutschland von Männern dominiert werden. Und es ist die Prosaliteratur, die durch das Nadelöhr der Übersetzung ins Englische geht.

Weibliche Autoren: so gut, aber so wenig beachtet!

Aber schauen wir uns doch einmal an, was wir hier an deutschsprachigen Büchern von Frauen haben, die man gelesen haben sollte, die "Must-Reads".

Man muss sagen, dass die ersten circa sechzig Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts nicht allzu reich an Schriftstellerinnen sind. Aber die, die auf unserer Liste stehen, sind erstaunlich gut – und wurden alle seit Anfang der 2000er Jahre erstmals übersetzt oder neu übertragen. Das sind Frauen, die sich entweder politisch auflehnten wie Anna Seghers und Christa Wolf in der Nazizeit bzw. in der DDR, oder gegen Dinge aufbegehrten, die von ihnen als Frauen erwartet wurden – auch das ein politischer Akt.

Bildkombo: Schriftstellerinnen
Irmgard Keun, Vicki Baum, Marlen Haushofer, Else Lasker-Schüler, Christa Wolf, Angelika Schrobsdorff, Herta Müller, Anna Seghers

Irmgard Keun und Marlen Haushofer hatten uneheliche Kinder, Vicki Baum lernte mit Marlene Dietrich das Boxen, Else Lasker-Schüler trotze allen Vorstellungen von passiver weiblicher Sexualität, Ilse Aichinger behauptete sich in der männerdominierten Gruppe 47. Alle schenkten sie uns einzigartige Sichtweisen, beeindruckende Figuren, sowohl männliche als auch weibliche, und Bücher, die sich bewährt haben. Um gehört zu werden, mussten sie umso härter arbeiten, und nur eines ihrer Bücher – Vicki Baums Bestseller "Grand Hotel" – schaffte es zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung ins Englische.

Jahrhundertelanger Kampf gegen Einschränkungen und Vorurteile

Warum war das so? Ich greife ungern auf Virginia Woolf zurück – so müde und oft elitär – aber sie schrieb bereits 1929 A Room of One's Own. Bis 1977 durften verheiratete Frauen in Westdeutschland nur mit Erlaubnis ihres Mannes arbeiten gehen. Im selben Jahr fragte der bekannte deutsche Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki: "Wen interessiert es, was eine Frau denkt, was sie fühlt, während sie menstruiert?", und bezeichnete einen Text von Karin Struck als "ein Verbrechen".

Als derselbe Kritiker 2009 gefragt wurde, ob Männer bessere Schriftsteller seien als Frauen, antwortete er: "Homer, Sophokles, Euripides, Horace, Ovid, Vergil, Dante, Petrarca, Molière, Corneille, Racine, Shakespeare, Cervantes, Calderón, Voltaire, Goethe, Schiller, Balzac, Stendhal, Flaubert, Puschkin, Dostojewski, Tolstoi, Proust, Brecht. Sie waren alle Männer. Ist das genug der Antwort?" Frauen, die auf Deutsch – und in anderen Sprachen – schreiben, stoßen seit Jahrhunderten auf diese lächerlichen Einschränkungen und Vorurteile, und es gelingt ihnen nur allmählich, sie abzubauen.

Großartige Bücher, große Bandbreite

Ein Grund mehr, die Schriftstellerinnen zu feiern, die auf der Liste stehen.

Anfang der 1990er Jahre ging es richtig los mit einigen großartigen Büchern: über die Nachwehen der DDR, Monika Marons "Animal Triste" und Inka Pareis "Die Schattenboxerin", über die Jugend eines türkischen Mädchens in Emine Sevgi Özdamars "Das Leben ist eine Karawanserei" und über persönlich-politische Beziehungen in Birgit Vanderbekes "Das Muschelessen", mit Angelika Schrobsdorffs "Du bist nicht so wie andre Mütter" und Elke Schmitters "Frau Sartoris".

Seit der Jahrtausendwende hat sich die Situation merklich gebessert.

Belletristik von Frauen deckt ein breites Spektrum ab. Sie stellen sich der Geschichte, wie Julia Franck im atemberaubenden Roman "Die Mittagsfrau" und Nobelpreisträgerin Herta Müller in ihrem tief bewegenden Buch "Die Atemschaukel". Andere wie Cornelia Funke schreiben Romane für junge Erwachsene, Werke von Weltklasse-Niveau – Millionen von Leserinnen und Lesern verlieren sich in ihnen.

Bildkombo: Schriftstellerinnen
Elke Schmitter, Emine Sevgi Özdamar, Monika Maron, Birgit Vanderbeke, Zsuzsa Bánk, Terézia Mora, Katja Petrowskaja, Yoko TawadaBild: DW

Es gibt Dunkelheit und Dystopien wie in Alina Bronskys "Scherbenpark" und Juli Zehs "Die Methode". Und es gibt exquisite Texte von Terézia Mora, Esther Kinsky und Jenny Erpenbeck. Sie werden vielleicht bemerken, dass die Namen dieser Autorinnen weniger deutsch aussehen – Zsuzsa Bánk, Alina Bronsky, Olga Grjasnowa, Katja Petrowskaya und Yoko Tawada sind tatsächlich alle mit anderen Sprachen aufgewachsen, aber jetzt schreiben sie auf Deutsch, da die Verlage behutsam damit begonnen haben, mehr und mehr verschiedenartige Stimmen zuzulassen.

Es mögen noch viele folgen!

Zu guter Letzt, fühlen Sie sich uns Übersetzern dankbar verbunden! In vielen Fällen sind wir es, die darauf drängen, dass diese Bücher ins Englische übersetzt werden, und die Verlage dazu bringen, ein Risiko für Autorinnen einzugehen, die sie normalerweise nicht selbst lesen können. In jedem Fall sind es aber die Übersetzer, die es Ihnen ermöglichen, diese Bücher selbst zu lesen. Mein Dank gilt also Anthea Bell, Philip Boehm, Susan Bernofsky, Sally-Ann Spencer, Shaun Whiteside, Jamie Bulloch, Tim Mohr, Shelley Frisch, Margot Bettauer Dembo – und all den anderen Übersetzern, die uns diese Bücher auf Englisch mit Liebe und Energie zur Verfügung gestellt haben. Möge es noch viele mehr geben!

 

Seit mehr als zwanzig Jahren lebt Katy Derbyshire, Jahrgang 1973 und ursprünglich aus London, in Berlin. Sie übersetzt zeitgenössische deutsche Belletristik. Ihre Übersetzung von Clemens Meyers "Im Stein" ("Bricks and Mortar") wurde für den Man Booker International Prize 2017 nominiert und erhielt den renommierten Straelener Übersetzerpreis. Katy Derbyshire hat bisher mehr als zwanzig Bücher von Schriftstellerinnen wie Inka Parei, Sibylle Lewitscharoff und Christa Wolf übersetzt. In ihrem viel beachteten Blog "love german books" schreibt sie "voreingenommene und unprofessionelle Berichte über deutsche Bücher, Übersetzungsfragen und das Leben in Berlin".