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Politik

Kehrtwenden im Königreich

Barbara Wesel
5. November 2020

Auch Großbritannien ist zurück im Lockdown. Die Infektionszahlen hätten ihm keine Wahl gelassen, sagt Premier Boris Johnson. Gegen die Rebellion in der eigenen Partei setzt er jetzt langfristige Corona-Ausfallzahlungen.

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Großbritannien I Coronavirus I Manchester
Bild: Getty Images/AFP/O. Scarff

Bei der Abstimmung im Unterhaus am Mittwoch stellten sich 34 seiner eigenen Abgeordneten gegen Boris Johnson. Die Unruhe bei den Konservativen über den zweiten Lockdown in Großbritannien hält an, seitdem ihn der Premier am Wochenende angekündigt hatte. Der Regierungschef aber sieht sich durch die Statistiken gestützt: Derzeit werden täglich rund 25.000 Neuinfektionen registriert, fast 500 Todesfälle und etwa 10.000 COVID-Kranke müssen stationär behandelt werden. Diese Zahl hat sich seit Anfang Oktober verfünffacht, weshalb das öffentliche Gesundheitssystem NHS Alarm schlägt und eine Überlastung der Krankenhäuser fürchtet.

Einmal mehr müssen die Briten jetzt zu Hause bleiben und von dort arbeiten, soziale Kontakte sind verboten, Läden, Restaurants, Pubs, Kinos und Sportclubs geschlossen. Am Mittwoch wurden überall im Land bis zur letzten Minute von den Friseuren Haare geschnitten, in den Pubs die letzten Pints getrunken und die Läden für frühe Weihnachtskäufe gestürmt. 

Johnsons jüngste Kehrtwende

Noch im Oktober hatte der Premier einen erneuten Lockdown ausgeschlossen: Man wolle die Wirtschaft nicht erneut lähmen und stattdessen das Virus durch ein Stufensystem regionaler Maßnahmen unter Kontrolle bekommen. Das scheint nicht geklappt zu haben. Jetzt musste er im Unterhaus um Verständnis für seine jüngste Kehrtwende bitten: "Es schmerzt mich, diese Einschränkungen für das Leben, die Freiheit und die Wirtschaft zu fordern, doch ich habe keine Zweifel, dass sie den besten und sichersten Weg für unser Land, unsere Bürger und unsere Ökonomie darstellen", versuchte Johnson die Zweifler in seiner eigenen Partei zu überzeugen.

UK Boris Johnson
Großbritanniens Premier Johnson verkündete den erneuten Lockdown im britischen UnterhausBild: David Cliff/NurPhoto/picture-alliance

Aber der einflussreiche Vorsitzende der Tory-Hinterbänkler Graham Brady blieb unbeeindruckt: "Ich stimme dagegen, so überzeugt wie noch nie in den vergangenen 23 Jahren (als Abgeordneter)". Er befürchtet enorme Folgen für die Wirtschaft und für die seelische Gesundheit der Briten, während andere die Kriterien für den Lockdown in Frage stellten und den Vertrauensverlust in die Regierung sowie die Ängste ihrer Wähler beklagten. 

Die frühere Premierministerin Theresa May, die in ihrer Amtszeit wegen des Brexits immer wieder von Boris Johnson im Stich gelassen wurde, genießt jetzt ihre Rache kalt: Die Wirtschaft und das Leben in Großbritannien würden "irreparabel geschädigt", wenn es entgegen den Zusicherungen Johnsons am Ende zu einer Serie wiederkehrender Lockdowns käme, begründete sie ihre Stimmenthaltung. Denn seiner Zusicherung, die Maßnahmen würden am 2. Dezember wieder aufgehoben, wollen viele unter den Konservativen nicht glauben.

Die Opposition wiederum stimmte zwar für den Lockdown, Labour-Chef Keir Stamer kritisiert aber, dass Johnson erst so spät eingreift: "Wenn man nicht rechtzeitig handelt, sind die Kosten viel höher". Tatsächlich hat die britische Regierung mit einschneidenden Maßnahmen, ähnlich wie schon bei der ersten Welle der Pandemie, erneut länger gewartet als die Nachbarländer.

Kehrtwende auch beim Finanzminister

Schatzkanzler Rishi Sunak holte am Donnerstag schließlich die finanzielle Bazooka hervor: Er verlängerte das 200 Milliarden Pfund schwere Rettungsprogramm für die britische Wirtschaft bis zum Frühjahr. Darin enthalten sind eine weitreichende Unterstützung für wegen Corona freigestellte Arbeitnehmer sowie weitere Hilfen für Selbständige, Notkredite für Unternehmen und die Ausweitung der Regionalhilfen für Schottland, Wales und Nordirland.

Grossbritannien Wales | Coronavirus | Neuer Lockdown
Wales, aber auch Schottland und Nordirland drängten auf weitere RegionalhilfenBild: Oli Scarff/AFP/Getty Images

In der vergangenen Woche war von dort massive Kritik gekommen, weil die regionale Finanzierung für die Unterstützungszahlungen nicht gesichert schien. Im Unterhaus hatten Abgeordnete aus dem Norden wütend eine Gleichstellung mit dem wohlhabenderen Süden verlangt und wortreich mehr Hilfe für Kleinunternehmer in Wales oder Selbständige in Edinburgh gefordert. Auch war durch die gestaffelten Maßnahmen der letzten Monate ein Flickenteppich von Regeln entstanden, der selbst für die Behörden undurchschaubar geworden war.

"Es ist klar, dass die ökonomischen Folgen für Unternehmen viel länger anhalten als die Dauer der Einschränkungen", räumte Rishi Sunak deshalb jetzt im Parlament ein. Bisher flossen die Gelder nur parallel zur jeweiligen Lockdown-Periode, jetzt gibt das erweitere Rettungsprogramm Unternehmen und Beschäftigten Sicherheit bis Ende März. Auch hier macht die Regierung in London eine Kehrtwende und holt nach, was in Berlin und Paris längst beschlossen worden war.

Die neue Großzügigkeit scheint aus der Not geboren: Wirtschaftsforscher haben ihre Vorhersagen nach unten korrigiert und die Hoffnung auf eine rapide Erholung beendet. Sie erwarten jetzt einen weiteren Einbruch der Konjunktur. Und auch die Nachrichten vom Arbeitsmarkt sind bedrückend. Täglich gibt es neue Job-Streichungen: Zuletzt verkündete die Supermarktgruppe Sainsbury den Wegfall von 3.500 Arbeitsplätzen.

Großbritannien Schatzkanzler Rishi Sunak
Der britische Schatzkanzler Rishi Sunak verlängerte die Corona-Hilfen bis ins kommende FrühjahrBild: Toby Melville/Reuters

Wirtschaftsführer und Investoren wie Luke Johnson, der Ex-Vorstand der durch Corona stark geschrumpften "Pizza-Express"-Kette, erklären ihre "Verzweiflung". Er fürchte, dass die Regierung "vom Corona-Virus besessen ist und die Kollateralschäden außer acht lässt", sagte Johnson im Times Radio. Es werde eine Pleitewelle geben, Tausende Arbeitsplätze verloren gehen und die Staatsschulden massiv steigen. Die öffentliche Verschuldung lag zuletzt bei 85 Prozent. Die Bank of England druckte am Donnerstag erneut Geld und kaufte Staatsanleihen im Wert von 150 Milliarden Pfund auf.

Ausicht auf No-Deal Brexit gestiegen? 

Die jüngste Gesprächsrunde über ein mögliches Handelsabkommen mit der EU endete wieder einmal ohne Durchbruch: Es gebe weiterhin "sehr ernsthafte Differenzen" bei Europas Grundbedingungen, erklärte EU-Chefunterhändler Michel Barnier. Dabei geht es weiter um die Regeln für fairen Wettbewerb, Aufsicht und Kontrolle eines Abkommens und die Fischereirechte. Barnier fügte hinzu: "Die EU ist auf alle Szenarien vorbereitet". Ein No-Deal-Brexit ist also nach wie vor möglich. 

Beobachter in Großbritannien vermuten jetzt, dass nach der Ausweitung der Corona-Hilfen bis zum Frühjahr die Wahrscheinlichkeit eines Brexits ohne Handelsabkommen gestiegen ist. Von den milliardenschweren Hilfen könnten die wirtschaftlichen Konsequenzen eines harten Übergangs am 1. Januar zunächst überdeckt und aufgefangen werden.

Großbritannien London | Katze vor Downing Street
Nur die Katze darf noch raus - die neuen Lockdown-Bestimmungen in Großbritannien sollen vorerst bis Anfang Dezember geltenBild: Simon Dawson/Reuters

Offiziell werden die Gespräche am Sonntag in London fortgesetzt, wobei Diplomaten in Brüssel glauben, die britische Regierung wolle den steigenden Zeitdruck nutzen, um die EU zu noch größeren Zugeständnissen zu zwingen. Als inoffizielle Frist der EU für eine Einigung gilt der 16. November, wobei Diplomaten eine Fortsetzung der Verhandlungen danach nicht ausschließen. Schließlich wollen die Europäer nicht als erste vom Tisch aufstehen. Die Gespräche werden zur Geduldsprobe für alle Beteiligten.