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Kein Jubel zum Ende der Ein-Kind-Politik

Christoph Ricking/HS30. Oktober 2015

Mit dem offiziellen Ende der "Ein-Kind-Politik" reagiert China auf drohende Gefahren durch die Überalterung der Gesellschaft. Aber der erwünschte Kindersegen könnte ausbleiben.

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Chinesische Kinder (Foto: Getty Images/AFP)
Bild: Getty Images/AFP/M. Clarke

Mit der Verkündung der generellen Erlaubnis für chinesische Ehepaare, zwei Kinder zu bekommen, ist die schon seit längerem aufgeweichte Ein-Kind-Politik Pekings jetzt offiziell beendet worden. Die genaue Umsetzung der neuen Politik soll den Provinzen überlassen werden, auch müssen Paare zunächst noch eine offizielle Genehmigung für eine Entscheidung einholen, die woanders auf der Welt als Privatsache gilt. Und mehr als zwei Kinder sind auch weiterhin nicht erlaubt.

"Die neue Politik ist gut, aber für uns ist sie 30 Jahre zu spät", erzählt die 61jährigen Rentnerin Huang aus Peking der DW. Sie hätte sehr gerne ein zweites Kind gehabt, aber das hätte eine hohe Geldstrafe (das Zwei- bis Sechsfache des Familienjahreseinkommens) und den Verlust ihres Jobs bedeutet. Das zweite Kind hätte wahrscheinlich keine Eintragung in das örtliche Einwohnerregister ("Hukou") bekommen, mit den entsprechenden Nachteilen. "Ich kenne viele Frauen, die eine Zwangsabtreibung durchmachen mussten", erzählt Frau Huang.

Chinesisches Ehepaar mit Kind (Foto: Getty Images/AFP)
Ein Kind reicht heute vielen chinesischen Eltern zum FamilienglückBild: Getty Images/AFP/M. Ralston

Eindämmung des Bevölkerungswachstums

Vor mehr als 35 Jahren verordnete die chinesische Führung unter Deng Xiaoping ihrem Volk die Ein-Kind-Politik, um des rasanten Bevölkerungswachstums Herr zu werden. Damit verbunden war eine umfassende Aufklärungskampagne. Kondome wurden verteilt, die Möglichkeiten für eine Abtreibung wurden vereinfacht. Wer sich zur Einhaltung der neuen Linie verpflichtete, wurde belohnt, wer sich verweigerte, bestraft und diskriminiert.

China sieht die Politik als Erfolg, denn als Folge habe sich das Bevölkerungswachstum abgeschwächt. "Nach chinesischen Statistiken hat sich die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau von vier bis sechs Kinder auf ein bis zwei Kinder reduziert", sagt Astrid Lipinsky, Sinologin an der Universität Wien. In China leben heute knapp 1,4 Milliarden Menschen. Ohne Ein-Kind-Politik wären es etwa 1,7 Milliarden, wenn man offiziellen Statistiken Glauben schenkt.

"China wird alt, bevor es reich wird"

Dafür zahlt das Land jedoch einen hohen Preis. Die Gesellschaft altert rapide. Schon seit 1999 definieren die Vereinten Nationen China als "alternde Gesellschaft". Damals überstieg der Anteil der über 65-Jährigen an der Gesamtbevölkerung die Sieben-Prozent-Marke. 2050 werden knapp ein Viertel aller Chinesen älter als 65 Jahre sein, schätzen die Vereinten Nationen. Nach Angaben der Nationalen Statistikbehörde Chinas sank im Jahr 2012 die Zahl der Chinesen im erwerbstätigen Alter erstmals. Allein im vergangenen Jahr verlor China rund 3,7 Millionen Arbeitskräfte. Ein gewaltiges Problem für ein Land, dessen Wirtschaft noch im Aufstieg begriffen ist und dessen Gesundheits- und Rentensystem unterentwickelt ist. "China wird alt, bevor es reich wird", so drückten es Demographie-Experten der Chinesischen Akademie der Wissenschaften aus.

Chinesischer Dissident Chen Guangcheng bei einer Pressekonferenz in Washington D.C., USA (Foto: Reuters)
Der Aktivist Chen Guangcheng, der seit 2012 in den USA lebt, musste wegen seines Engagements für Frauen, die zu Abtreibungen gezwungen wurden, ins GefängnisBild: Reuters

Besonders auf dem Land werden traditionell männliche Nachkommen bevorzugt. Das führte dazu, dass weiblich Föten häufiger abgetrieben wurden. "Es gibt weniger Frauen, es gibt deutlich weniger Mädchen. 2014 kamen auf 116 neugeborene Jungen 100 Mädchen. Das heißt, da ist eine große Lücke", erklärt Astrid Lipinsky. Viele chinesische Männer - meist die Ärmsten - finden keine Ehefrau. Das führt dazu, dass auch in der nächsten Generation weniger Kinder geboren werden. Der Frauenmangel fördert zudem Menschenhandel und Prostitution.

Lockerung der Ein-Kind-Politik schon vor neun Jahren

Die negativen Auswirkungen der Ein-Kind-Politik hatte die Staatsführung längst erkannt. Schon 2006 erlaubten einige Provinzen solchen Paaren, bei denen beide Einzelkinder sind, zwei Nachkommen. 2013 wurden die Regeln weiter gelockert. Seither dürfen Familien zwei Kinder bekommen, wenn nur ein Elternteil Einzelkind ist. Doch viel gebracht hat das offenbar nicht. Nach Angaben der Nationalen Gesundheits- und Familienplanungskommission haben bis Mai 2015 nur 13 Prozent der elf Millionen Paare, die eigentlich einen Anspruch auf ein zweites Kind gehabt hätten, einen entsprechenden Antrag gestellt.

Viele Experten bezweifeln, dass mit der Abschaffung der Ein-Kind-Politik eine signifikante Zunahme der Geburtszahlen bewirkt werden kann. So auch Zhou Xiaozheng, Dozent an der Pekinger Volksuniversität. Ihm zufolge hat sich in der chinesischen Gesellschaft infolge der Ein-Kind-Politik ein Kulturwandel vollzogen. Galten traditionell viele Kinder als Segen, sei jetzt das kinderlose Paar mit zwei Einkommen durchaus ein akzeptables, wenn nicht sogar erstrebenswertes Modell. "Nach über 30 Jahren Ein-Kind-Politik sind ihre Nachteile unübersehbar. Jetzt ist diese Politik abgeschafft, das ist eine gute Sache. Ich denke jedoch, wer mehr Kinder haben wollte, hat sie auch bekommen. Besser wäre es, wenn die Regierung die Menschen ermutigen würde, nicht nur zwei, sondern möglichst sogar drei Kinder zu bekommen", sagt Zhou Xiaozheng gegenüber der DW.

Chinesisches Rentnerpaar (Foto: Ed Jones/AFP/Getty Images)
Experten sagen, der Politikwechsel komme zu spät: Zur Mitte des Jahrhunderts wird jeder dritte Chinese über 60 seinBild: Ed Jones/AFP/Getty Images

Weniger Geburten, mehr kinderlose Haushalte

Aber dem steht ein Trend entgegen, der viele Industrienationen bereits erfasst hat. Ähnlich wie in Japan, Singapur, Hongkong oder Taiwan, aber auch in Westeuropa steigt die Zahl der kinderlosen Paare in China stark an. Ende der 1970er Jahre brachte eine chinesische Frau im Durchschnitt noch 4,22 Kinder zur Welt, 2014 waren es 1,4. Mittlerweile liegt der Anteil der chinesischen Haushalte ohne Kinder nach einer Untersuchung der Familienplanungskommission bei 40 Prozent.

Besonders in den Städten wollen viele Paare nicht mehr als ein Kind. "Städtisches Leben, das wissen wir ja auch aus Westeuropa, ist einfach mit Kindern teuer und schwieriger zu organisieren", sagt Astrid Lipinsky. Das Ergebnis einer Internetumfrage des chinesischen Internetkonzerns "Sina" unterstützt diese These. 52 Prozent der 5000 Befragten gaben an, der ökonomische Druck sei zu hoch, um ein zweites Kind zu bekommen.