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Theater

Theater erinnern an NSU-Morde

4. November 2021

Vor zehn Jahren flog die rechtsextreme Terrorzelle NSU auf. An die Opfer ihrer Mordserie erinnert jetzt ein großes Theaterprojekt: "Kein Schlussstrich!"

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Filmstill aus der Doku über die Trauerdemonstration "Kein 10. Opfer" 2006 in Kassel: Menschen laufen mit transparenten durch die Straßen.
Trauerdemonstration nach dem NSU-Mord in Kassel: 2006 wurde hier als letztes Opfer des NSU Halit Yozgat erschossenBild: Ayse Guelec

Als der türkische Blumenhändler Enver Simsek am 9. September 2000 in Nürnberg beim Arbeiten niedergeschossen wird und zwei Tage später stirbt, tappt die Polizei lange im Dunkeln. Erst elf Jahre später wird klar: Hinter der Tat steckt der sogenannte Nationalsozialistische Untergrund (NSU). Simseks Foto ist in einem Bekennervideo aufgetaucht. Seine Tochter Semiya Simsek fragt heute: "Warum ausgerechnet mein Vater? War das nur Zufall?"

Für sie wie für die Angehörigen aller neun NSU-Mordopfer stellen sich viele Fragen. Daran änderte selbst der fünf Jahre dauernde Mordprozess gegen die NSU-Angehörige Beate Zschäpe und mehrere Terrorhelfer am Oberlandesgericht München nichts. Die NSU-Mitglieder Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt - beide begingen Selbstmord - und Beate Zschäpe ermordeten zwischen 2000 und 2007 neun Migranten und eine Polizistin.

Vertrauen der Opfer in den Staat beschädigt

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Sie verübten 43 Mordversuche, drei Sprengstoffanschläge und 15 Raubüberfälle. "All das darf nicht vergessen werden", sagt Jonas Zipf, Werkleiter von "JenaKultur", der mit anderen den Anstoß zu dem Theaterprojekt gab. "Es geht nicht darum, den NSU zu historisieren", so Zipf zur DW, "sondern darauf hinzuweisen, welche Bedrohungen für die Demokratie auch heute noch existieren und wie sehr das Vertrauen der Opferangehörigen in den Staat und seine Organe beschädigt ist." Theater und kulturelle Institutionen aus 15 deutschen Städten machten mit, stemmten sich mit Aufführungen, Ausstellungen, Online-Inszenierungen und öffentlichen Diskussionen gegen das Vergessen. Ihr gemeinsames Motto: "Kein Schlussstrich!"

Viele offene Fragen

Tatsächlich ist die Aufarbeitung des Mordgeschehens längst nicht erledigt. Wie groß war das NSU-Netzwerk wirklich? In wie vielen Köpfen steckt das rassistische und fremdenfeindliche Gedankengut, das die Rechtsterroristen zu ihren Taten bewog? Solchen Fragen, die nicht nur die Familien der Ermordeten bewegen, ging beim Kunstfest Weimar der Regisseur Nuran David Calis nach - mit der Performance "438 Tage NSU-Prozess - Eine theatrale Spurensuche".

Zwar sei das Urteil im NSU-Prozess gesprochen, so Calis im Mitteldeutschen Rundfunk. Nun müsse es aber "eine andere Form von Aufarbeitung in der breiten Gesellschaft" geben. Immerhin hätten sich seit der Aufdeckung des NSU vor zehn Jahren die Anschläge in Halle und Hanau und die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke ereignet. Texte und inoffizielle Protokolle des NSU-Prozesses ließ Calis überwiegend von Politikern, Kunstschaffenden und Angehörigen von Opfern sprechen.

Eine nachgestellte Gerichtsverhandlung mit Richter, Zeugen und Anklägern.
Spielszene aus dem Stück "438 Tage NSU-Prozess" beim Kunstfest WeimarBild: Candy Welz

Ein Highlight des Theaterprojektes ist das Oratorium "MANİFEST(O)", das der deutsch-türkisch-armenische Musiker Marc Sinan komponiert hat. Darin werden die sieben Tatorte der NSU-Morde miteinander verbunden. Einzelperformances wurden jeweils digital nach Jena und Nürnberg übertragen und zu einem abendfüllenden Werk vereint. Das Kölner Schauspiel steuerte den "CHOR DER VERGEBUNG / AFFETME KOROSU" bei, eine stimmenreiche Prozession auf der Keupstraße, die zum Innehalten einlud.

Betroffene berichten

Auf der Keupstraße, einem Zentrum des türkischen Geschäftslebens in Köln, war am 9. Juni 2004 eine ferngezündete Nagelbombe des NSU detoniert. Dabei wurden 22 Menschen verletzt, vier davon schwer. Das Schauspiel Köln beteiligt sich an "Kein Schlussstrich!" jetzt unter anderem mit einer Fortschreibung des Theaterstücks "Die Lücke", im dem Regisseur Nuran David Calis bereits 2014 Menschen zu Wort kommen ließ, deren Leben der Anschlag erschüttert und verändert hatte.

Drei mitwirkende Betroffene erzählen, wie sie das NSU-Gerichtsurteil und den Schuldspruch wahrnahmen und wie es sich in Deutschland nach den Anschlägen von Halle, Hanau, Chemnitz und Kassel leben lässt. "DIE LÜCKE 2.0" hat an diesem Freitag (5. November 2021) Premiere.

Eine Frau in schwarzem Sacko steht vor einem Mikro und spricht. Im Hintergrund drei Personen, die in die Kamera blicken.
In "DIE LÜCKE 2.0" am Schauspiel Köln berichten Menschen von ihren ErlebnissenBild: Ana Lukenda

Nürnberg, die Stadt, in der es mit Enver Simsek, Abdurrahim Özüdoğru und İsmail Yaşar gleich drei NSU-Opfer gab, hat sich dem Theaterprojekt mit Marc Sinans "MANİFEST(O)" - so heißt "Manifest" auf Türkisch - angeschlossen. Mehr als 200 Künstlerinnen und Künstler wirken mit.

Am Theater Heilbronn entstand das Stück "Verschlusssache" von Regine Dura und Hans-Werner Kroesinger. Das regionale Recherche-Projekt setzt sich mit dem Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter auseinander, untersucht die rätselhaften Ermittlungspannen der Polizei und beschreibt Verbindungen zwischen dem NSU und der rechten Szene in Baden-Württemberg. Die Uraufführung von "Verschlusssache" steht für 15. November auf dem Spielplan.

"Kein Recht, Opfer zu sein"

Fünf Jahre dauerte der NSU-Prozess und endete mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe für die Terroristin Beate Zschäpe. Die Urteilsschrift ist über 3000 Seiten stark. Das Leid und die Erfahrungen der Opferangehörigen blieben darin eine anonyme Randnotiz, sagen viele Betroffene. Abdulkerim Simsek, Sohn des ersten NSU-Mordopfers, erinnert sich an die schwierige Zeit nach dem  Tod seines Vaters: "Überall wurde man verdächtigt. Wir hatten nicht das Recht, Opfer zu sein. Leider!"

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