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Keine Aktien drin

7. Mai 2010

Klassenpflegschaftssitzung. Es geht um die Entscheidung über eine Verlegung der Pause. Den Eltern ist die Sache egal. Man bittet den Lehrer um seine Meinung. Er antwortet: "Da hab ich keine Aktien drin."

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Der Schriftsteller Burkhard Spinnen (Foto: privat)
Burkhard SpinnenBild: privat

Was der Mann damit sagen will, ist klar: Er verfolgt hier keine eigenen Interessen. Und niemand unter den Eltern versteht auch etwas anderes, niemand merkt bei dieser Redewendung besonders auf. Dabei hätte der Lehrer Dutzende von Möglichkeiten, ein "Das ist mir egal" in andere Worte zu fassen. Wahrscheinlich ohne großes Nachdenken aber hat er sich für die Aktien-Redewendung entschieden. Sie schwirrte wohl besonders weit vorne im Kopf herum und bot sich am lautesten an.

Die Redezeit anhalten

Dass die Eltern hier nicht besonders aufgemerkt haben, kann ich kaum kritisieren. Man kann nicht auf jede Redewendung achten, sonst wäre ja kein Alltagsgespräch mehr möglich. Aber ich habe hier die Gelegenheit dazu, und deswegen kann ich die Zeit kurz anhalten. Denn ich möchte auf etwas ganz Fundamentales aufmerksam machen. Ich begreife das momentane Auftreten der Aktien-Redewendung nämlich als Indiz einer großen Sprachwende. Wenn auch Menschen, deren Berufsalltag sich fernab der Börse vollzieht, Redensarten aus der Finanzbranche verwenden, sehe ich das als einen Beleg dafür, wie das Denken der modernen Ökonomie über die Alltagssprache das Alltagsbewusstsein erobert.

Anteilnahme gleich Aktienbesitz

Symbolbild fallender Aktienkurs (Foto:dpa)
Der Kurs im freien Fall - da hat man lieber keine Aktien drin...Bild: Picture-Alliance/dpa

Hier vollzieht es sich an einem einfachen und leicht nachvollziehbaren Beispiel: Anteilnahme oder Nichtanteilnahme an einem Problem wird in der Metapher des Aktienbesitzes ausgedrückt. Das Wort Aktie kann also heute bereits als universelle Metapher für Teilnahme verwendet werden. Und das heißt: Ein Begriff aus dem engeren Kontext der Wirtschaft besitzt die Kraft, ins Alltagssprechen einzudringen und dort weitreichende Funktionen auszuüben.

Ich habe es kürzlich an dieser Stelle so formuliert: Wir reden gerne so wie die, die das Sagen haben. Früher waren es Religion oder Politik, an deren Sprechen man sich im Alltag orientierte. In meist unbedachten Äußerungen wie "um Himmels Willen" oder "mehrheitsfähig" drücken sich solche Zusammenhänge heute noch aus. Doch an die Stelle der alten Machthaber über das Alltagsbewusstsein sind neue getreten, und unter ihnen nimmt die Wirtschaft die stärkste Position ein. Wir erfahren das jedes Mal, wenn wir die Nachrichten hören oder eine Zeitung aufschlagen und uns die Wirtschaftsmeldungen als erstes entgegenschlagen.

Was wir allerdings weniger wahrnehmen, dass ist die Art und Weise, wie das Wirtschaftsdenken über unsere Sprache unser Bewusstsein besetzt. Metaphern wie die vom Aktienbesitz schleichen sich über unsere Zunge in unser Gehirn und verändern dort unser Denken – und sie verändern es sicher nicht immer zum Besseren. Es wäre daher wichtig, wenn wir sorgfältig prüfen würden, wen wir über unsere Lippen lassen.

Burkhard Spinnen, geboren 1956, schreibt Romane, Kurzgeschichten, Glossen und Jugendbücher. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet. Spinnen ist Vorsitzender der Jury des Ingeborg-Bachmann-Preises. Zuletzt ist sein Kinderbuch "Müller hoch Drei" erschienen (Schöffling).

Redaktion: Petra Lambeck