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Musik

Warum Beethoven? Antworten von Kent Nagano

Kent Nagano
23. August 2020

Der amerikanische Dirigent Kent Nagano hat für uns aufgeschrieben, was Ludwig van Beethoven heute bedeutet - und wie er die Welt geprägt hat.

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Bildkombo Kent Nagano und Beethoven
Der Maestro erklärt den Meister

Im 250. Jahr nach der Geburt von Ludwig van Beethoven denkt Kent Nagano über die Art und Weise nach, wie Beethoven die Geschichte mitbestimmt hat - auch jenseits des engeren Feldes der klassischen Musik.

1. Das Konzertleben heute wäre ohne Beethoven ein ganz anderes. Insbesondere seine Sinfonien und Solo-Konzerte haben dazu beigetragen, Dinge zu institutionalisieren, die für uns heute selbstverständlich sind: das Orchesterwesen, Konzertserien, musikalische Gedenktage und Festivals.

2. Der tiefgründige Ausdruck von Humanismus, der in Beethovens Musik steckt, spiegelt Ideale der Aufklärung wider: das Recht auf Freiheit und Gerechtigkeit, auf Selbstbestimmung, Individualismus und menschlichen Fortschritt. Die Zeit Beethovens war eine Zeit von Umstürzen, von Krieg und Nationalismus, aber auch eine Zeit, in der neue Konzepte des Individuums, der Gesellschaft und der Welt entstanden sind. In dieser Zeit grundlegenden Wandels sollten Menschen nun für ihre Würde, für ihr eigenes Glück kämpfen - und dafür auch Verantwortung übernehmen. Für diese neue Denke komponierte Beethoven die entsprechende Musik und teilte darin das Ideal einer besseren, humanen Welt mit.

3. Beethoven schrieb Musik, die von Menschlichkeit und menschlicher Erfahrung spricht. Oft, wie etwa bei einem Live-Konzert, erkennt man darin das Spannungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft. Die Werke spiegeln auch Werte der bürgerlichen Gesellschaft wider, die zu Beethovens Zeiten gerade entstand. Dazu gehört der Wert der Arbeit, der Ideen, der Empfindsamkeit und der Emotionalität. So besitzt Beethovens Musik mitunter auch politische Inhalte, die durch die öffentliche Rezeption im Laufe der Jahre zu erkennen sind.

Kent Nagano im Schwarzen Smoking mit weißem Flieger
Die ganze Bandbreite menschlicher Erfahrung hört Kent Nagano in Beethovens Musik Bild: Sergio Veranes

4. Beethovens Kompositionen sind von hervorragender Qualität. Seine Werke waren und sind eine Herausforderung, sowohl spieltechnisch als auch interpretatorisch.

5. Beethoven war ein Meister verschiedener Musikgenres: Solo-Klaviermusik, Kammermusik, Sinfonie, Oratorium, Oper und so weiter. Er fokussierte auf das Besondere des jeweiligen Genres und setzte Maßstäbe darin.

6. Er half, einen neuen Komponisten-Typus zu etablieren, einer, der nicht Kirche oder Obrigkeit, sondern nur seiner inneren Stimme verpflichtet war. Passend zur neu entstehenden Gesellschaft seiner Zeit fand er neuartige musikalische Ausdrucksformen. Mit Beethoven kam der Begriff von künstlerischer Pflicht und künstlerischer Wahrhaftigkeit. Das mündete in ein neues Verständnis von Musik als gesellschaftliche Kunstform.

Beethoven-Partitur von der "Neunten Sinfonie" als Faksimile
Ludwig van Beethovens Partitur der "Neunten Sinfonie", uraufgeführt 1824Bild: picture-alliance/dpa/dpaweb/A. Altwein

7. Dieser Komponist wurde zur Leitfigur der Musik seiner Zeit: An ihm sollten alle andere sich messen. Der Humanismus in seiner Musik war der Stoff für Legende, für die Stilisierung und Ikonisierung der Figur Ludwig van Beethoven.

8. Durch ihn änderte sich die Art, wie Menschen Musik hören und verstehen. In Form und Ritual des öffentlichen Konzerts verbreitete sich seine Musik rasch – und jenseits des reinen Unterhaltungs- oder Ablenkungswerts konnten sich viele Menschen persönlich darin wiedererkennen. Sie enthält die Botschaft von individueller, subjektiver Lebenserfahrung, von existentieller Selbstwahrnehmung. 

9. In der Musik Beethovens hört man Fortschritt und Fortentwicklung. Oft scheint sie von der Zukunft oder von Veränderungsprozessen zu sprechen. Es ist eine Musik von Mut und Optimismus, Vitalität und Energie, Fülle und Bewegung - und sie löst ein sinnliches, spirituelles Hör-Erlebnis aus. Manchmal erklingen aber auch Sorgen darin, Zweifel über den Fortschrittsgedanken oder über die menschliche Fähigkeit, sich qualitativ fortzuentwickeln. Vor allem das Spätwerk strahlt mitunter auch Skepsis aus, oder man vernimmt darin Meditatives, oder Selbstbesinnung.

Statue Ludwig van Beethovens in Bonn
Keine steinerne Ikone sondern ein Künstler aus Fleisch und BlutBild: picture-alliance/imageBROKER/H. Schmidt

10. Beethovens Musik treibt vorwärts, geht weiter, sprengt Grenzen des Gegebenen, des Vorbestimmten oder bereits Existierenden. Sie hinterfragt die Relevanz des Überlieferten und impliziert die Idee von Fortschritt durch Aufklärung.

11. Beethovens Musik ist universell. Sie spricht nicht bloß einen erlesenen Teil der Gesellschaft an, sondern will jeden Menschen erreichen. Seine zeitlose Kunst ist jenseits der Grenzen aller Modeerscheinungen angesiedelt. Sie gibt bestimmte Wahrheiten wider - und Menschen brauchen diese Wahrheit.

Kent Nagano ist seit Jahrzehnten im Musikleben Deutschlands nicht wegzudenken. 2000 bis 2006 diente er als Chefdirigent beim Deutschen Symphonie-Orchester Berlin (DSO) und 2006 bis 2013 als Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper München. Seit 2015 ist er Generalmusikdirektor der Hamburgischen Staatsoper.

Der amerikanische Maestro ist auch ein leidenschaftlicher musikalischer Kommunikator und erklärt klassische Musik in Büchern, Sendungen und Dokumentationen. Er hat mehrfach eng mit der DW zusammengearbeitet, etwa bei der Hörfunkserie "Kent Nagano in Berlin" 2003 und in der sechsteiligen Dokureihe "Kent Nagano dirigiert Monumente der Klassik" im Jahr 2006. In seinem Buch "Erwarten Sie Wunder!" erläutert er, wie relevant die Klassik im modernen Leben ist, und wie sie in einem Zeitalter beispielloser Komplexität sogar notwendigen Halt und Orientierung bieten kann.