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Deutschland ist nicht wirklich kinderfreundlich

27. Mai 2011

Der Bundestag hat ein Gesetz verabschiedet, das es schwer machen soll, gegen Kinderlärm zu klagen. Denn bisher entpuppte sich Deutschland als kinderfeindlich. Viele stören sich am Kindergeschrei.

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Lachendes Kind auf Schaukel. (Foto: fotolia)
Kinderlachen ist für viele Bürger nur LärmterrorBild: fotolia

In Troisdorf bei Bonn toben im Kindergarten fröhliche Kinder beim Fangenspielen. Immer wieder springen Erzieherinnen herbei, um die Kinder zu ermahnen, bitte etwas leiser zu spielen. Wegen der Nachbarn. Die drohten immer wieder mit einer Lärmschutzwand. Die Kindertagesstätte "Marienkäfer" in Hamburg hat schon eine solche Akkustik-Mauer, die die Kinder bunt angemalt haben. Dennoch wirkt alles ein wenig wie ein Getto.

Gerichte habe alle Hände voll zu tun

Tausende Bürger empfinden Kindergeräusche weder als "Zukunftsmusik" noch als völlig natürliche Äußerung purer Lebensfreude, sondern als unerträglichen Lärm, Terror und nach dem bisherigen Immissionsschutzgesetz als "Umweltschaden". Gegen Familien, Kindergärten und Spielplätze zogen diese Bürger vor Gericht. Mehrere hundert Prozesse verhinderten in der angeblich kinderfreundlichen Bundesrepublik Mietverhältnisse, neue Kindergärten oder den Bestand der alten. Jede fünfte Kommune war schon von Klagen gegen Kinder betroffen. Von Nord- bis Süddeutschland gibt es überall dieselbe Haltung. Um von Kindern bloß nichts zu hören, wurde auch kein Aufwand gescheut:

Vermeintlich nicht eingehaltene Abstände zu Schaukeln wurden nachgemessen, mit Lärmmessgeräten Lärmpegel nachgewiesen, Schwerbehindertenausweise sollten besondere Ruhebedürftigkeit unterstreichen, nicht eingehaltene Ruhezeiten wurden minutiös protokolliert und in vielen Städten mussten Kindergärten in öffentlicher wie privater Trägerschaft aus Stadtvierteln wegziehen, weil Anwohner erfolgreich geklagt hatten.

Richter hält Gesetzesblätter (Foto: dpa)
Prozesse um Kinderlärm beschäftigten schon höchste GerichteBild: picture-alliance/dpa

Eigentümer fürchten Werteinbußen

Im Frankfurter Deutschherrenviertel beschäftigt eine Hausverwaltung auf Wunsch vermögender Wohungseigentümer eine eigene Aufsichtsperson, die die Kinder beim Spielen kontrolliert, damit nicht zu laut getobt wird. Eltern berichten von Kindern, die dort nicht mehr spielen wollen und in den Nachbarhof ziehen, weil die Anwohner dort kinderfreundlicher sind. Eine Mutter erzählt sogar von massiven Übergriffen. "Mein Sohn wurde vom Fahrrad gezerrt, nur weil er damit gefahren ist!" Dabei hatte die Wohnungsbaugesellschaft einst gerade junge Familien angelockt.

Um gegen Kindergeräusche zu klagen, gab es in Deutschland auch unzählige Unterschriftenaktionen. Zum Beispiel im Hamburger Generalsviertel. Hier äußerten sich auch einige Anwohner öffentlich. Dabei wurde schließlich deutlich, dass es den wenigsten um ihr Ruhebedürfnis geht, sondern um den Wert ihres Anwesens. "Man möchte diesen Wert und den Besitz natürlich nicht schmälern"

Kinder spielen und lachen (Foto: ap)
Viele Bürger fühlen sich durch laute Kinder gestörtBild: AP

Kinderlärm - ein Fest für Anwälte

Wertverlust durch Kindergeräusche in der Nachbarschaft. Das kann man so offen in gerichtlichen Auseinandersetzungen kaum mehr ansprechen. Deshalb klagen die meisten eingeschalteten Anwälte auch wegen Verstößen im Baurecht oder der Baunutzungsverordnung. Die nämlich untersagte bisher Kindergärten in reinen Wohngebieten. Nach Ansicht der Auftraggeber der Anwälte müsse man Kindern auch Rücksichtnahme auf andere zumuten können. Das sei Aufgabe der Eltern und der Betreiber von Kindergärten:

Am lautesten forderten Haus- und Grundbesitzer sowie die "Senioren-Union", dass es keine "Überpriviligerierung von Kindern" in der deutschen Gesellschaft geben dürfe. Wenn Mitglieder darauf angesprochen werden, klingt das auf einmal ganz anders: "Kinderlärm ist schön. Wir bräuchten eigentlich viel mehr Lärm, weil wir wesentlich mehr Kinder in Deutschland bräuchten" sagt Alois Pinzinger von der "Senioren-Union Niederbayern. Und auch in Bürgerversammlungen wie der in Freiburg gibt es die üblichen öffentlichen Beschwörungsformeln. "Wie tiefkrank muss eine Gesellschaft sein, die lärmende Kinder verurteilt" ist von den Politikern zu hören, die schwören, die Schilder abzubauen, die Kinderlärm ab 18.00 Uhr am Tag verbieten. Es herrscht offenkundig in Deutschland eine Doppelmoral.

Erzieher hilft einem Kind. (Foto: boys-day.de)
Immer noch fehlen tausende KindergartenplätzeBild: www.boys-day.de

Kinder gerne - aber bitte nicht bei uns

Die Wahrheit in Deutschland entpuppt sich dann in Ratssitzungen wie der in Hamburg, in der Carola Veit, der heutigen Bürgerschaftspräsidentin, der Kragen platzte. Sie entrollte einen Baustufenplan, der seit den 1950er Jahren nicht mehr verändert wurde und viele Stadtteile als besonders geschützte Wohngebiete auswies. So gab es bisher keine rechtliche Chance, dort eine Kindertagsstätte zu bauen.

Bis zum Jahr 2013 soll es in Deutschland einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz geben. Dafür müssten Städte und Gemeinden hunderte zusätzliche Kindertagesstätten genehmigen. Ohne die Änderung der Baunutzungsverordnung wird ein neues Lärmgesetz wenig bringen. Eine Veränderung durch die Bundesregierung sei geplant, ist aus Berlin zu hören. Bis dahin wären die Leidtragenden der Kinderfeindlichkeit wieder einmal alleinerziehende Mütter, die arbeiten wollen oder arbeiten müssen. Sie finden lange Wartelisten aber kaum freie Kindergartenplätze. Eine Betroffene bringt es auf den Punkt. "Das alles macht wütend und traurig."

Autor: Wolfgang Dick
Redaktion: Arne Lichtenberg