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Blutrache in Albanien

Angelina Verbica9. Oktober 2012

Mehr als 5000 Menschen wurden in den letzten 20 Jahren in Albanien Opfer der Blutrache. Nach dem Ende des Kommunismus kehrte diese alte Tradition zurück. Die katholische Kirche versucht, dem Morden ein Ende zu setzen.

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Albanische Jugendliche protestieren gegen die Blutrache mit Fotos der ermordeten Maria Cuku (Foto: EPA)
Bild: picture-alliance/dpa

Maria Cuku wird ihren 18. Geburtstag nie erleben. Das Mädchen aus dem nordalbanischen Dorf Kir wurde zusammen mit seinem Großvater erschossen, als die beiden friedlich auf dem Feld der Familie arbeiteten. Der Mörder bereut seine Tat nicht, weil er sie als legitime Rache sieht: Wegen jahrzehntealter Familienfehden werden Angehörige der "feindlichen" Sippe getötet - damit sollen Gewalttaten gegen die eigene Sippe gerächt und die Familienehre wiederhergestellt werden.

Nach dem Vorfall vom 20. Juni protestierten in der albanischen Hauptstadt Tirana Hunderte von Jugendlichen mit Fotos der ermordeten Maria Cuku gegen die Blutrache. Die Blutrache gehört zum Kanun, dem Gewohnheitsrecht der Bergbewohner im Norden Albaniens, das über Jahrhunderte mündlich überliefert wurde. Der Kanun war sowohl in katholisch geprägten Gebieten als auch unter der muslimischen Bevölkerung verbreitet.

Kirche gegen Gewohnheitsrecht "Kanun"

In der Zeit des Kommunismus in Albanien hörte der Kanun, und mit ihm die Blutrache auf, zu bestehen - und zwar wegen der strengen Strafen des Regimes. Doch das war kein wirkliches Ende, denn nach der politischen Wende kehrte die alte Tradition zurück. Im Namen von "Blut und Ehre" sterben auch Kinder und Jugendliche wie Maria Cuku. Die katholische Kirche hatte zwar in Predigten schon seit langer Zeit die Blutrache verurteilt, doch der Tod der jungen Frau war nun der Anlass für eine härtere Maßnahme gegen die Anhänger dieser Tradition. Am 18. September hat die katholische Kirche in Albanien ein Dekret erlassen, durch das jeder Katholik exkommuniziert wird, der einen Mord aus Blutrache ausübt. Papst Benedikt XVI. und der Premier Albaniens, Sali Berisha, begrüßten den Beschluss.

Albanische Männer demonstrieren gegen Blutrache mit Plakaten auf denen "Stoppt die Blutrache" steht (Foto: EPA)
Proteste gegen die Blutrache in Albanien im Sommer 2012Bild: picture-alliance/dpa

"Blutrache ist eine Selbstvernichtung des Volkes", sagt der Bischof von Sapa, Lucian Avgustini, im DW-Interview. Er beschwört die Albaner, "im Namen Gottes die mörderische Hand gegen den Bruder aufzuhalten".

Außerdem werde heutzutage "nicht der Kanun von früher respektiert, weil der Frauen und Kinder schützt", erklärt der Bischof. Der ursprüngliche Kanun habe vorgesehen, dass nur die Täter selbst bestraft werden, nicht deren Angehörige. Weil die Menschen dieses Gesetz nicht kennen, "schaffen sie neue Kanune und damit unerhörte Tragödien und Verbrechen".

Für die Morde aus Blutrache sei auch die Korruption in der albanischen Justiz mitverantwortlich, sagt Bischof Avgustini. Nach dem Ende der kommunistischen Diktatur haben ungelöste Eigentumsfragen viele Konflikte ausgelöst. Es sei immer noch oft ein Streit um Land und Eigentum, der bis zum Mord eskaliert, sagt Rezar Velmishi, stellvertretender Polizeidirektor in der Stadt Shkodra, im Gespräch mit der DW. "Trotz der Verurteilung des Schuldigen durch den Staat finden es Leute richtig, ihre Ehre nach den Maßstäben ihrer Moral oder ihrer regionalen Traditionen zu verteidigen", sagt der Hauptkommissar.

Porträt des Bischofs von Sapa in Nordalbanien, Lucian Avgustini (Foto: L. Avgustini)
Bischof Avgustini: "Blutrache ist Selbstvernichtung"Bild: Privat

Immer mehr junge Menschen lehnen Blutrache ab

Und so wird an der Stelle des Täters, der oft längst im Gefängnis sitzt, ein anderes Mitglied der Sippe ermordet. "Der größte Teil derjenigen, die im Namen des Kanuns töten, haben keine Ahnung, was der Kanun wirklich ist. Sie bemühen sich, ihre Handlungen moralisch durch den Kanun zu rechtfertigen", beklagt Hauptkommissar Velmishi.

Immerhin ist nach Angaben der albanischen Polizei der Anteil der Morde aus Blutrache zurückgegangen: Vor zehn Jahren waren noch mehr als ein Drittel der Morde in Albanien durch diese brutale Tradition motiviert, in diesem Jahr sind es nur noch 10 Prozent, erklärt Rezar Velmishi.

Gerade junge Leute wollen mit der Blutrache und ihren verheerenden Folgen nichts zu tun haben. Einige ziehen sogar ins Ausland, um keine Racheakte verüben zu müssen. Besonders tragisch ist die Situation vieler Jungen und Männer, die das Haus nicht verlassen, weil draußen der Tod droht: Sie wissen, dass sie wegen der Tradition der Blutrache von einem Mitglied der feindlichen Sippe ermordet werden sollen. Nach den Regeln des Kanun sind sie nur in den eigenen vier Wänden sicher, denn nur dort dürfen sie nicht getötet werden. Deshalb wachsen auch Kinder in völliger Isolation auf, ohne je die Schule zu besuchen.

Sicherheit nur in den eigenen vier Wänden

Die Verzweiflung dieser Kinder und Jugendlichen kennt Ordensschwester Christina Färber sehr gut, denn sie besucht sie regelmäßig. "Das eigene Heim, das eigentlich das Prinzip der Sicherheit verkörpert, wird zum Gefängnis und draußen lauert wirklich der Tod", sagt sie. "Jeder Isolierte ist traumatisiert."

Die Nonnen Christina Fräber im Gespräch mit Vilma Filaj-Ballvora (Foto: Vilma Filaj-Ballvora)
Ordensschwester Christina Färber vermittelt zwischen verfeindeten FamilienBild: DW

Seit 13 Jahren unterstützt sie Menschen in Nordalbanien, die von der Tradition der Blutrache betroffen sind, sammelt Spenden für verarmte Opfer und versucht, verfeindete Familien miteinander zu versöhnen. In ihrem Kloster des Schweizer Ordens der Spirituellen Weggemeinschaft in der Nähe der albanischen Stadt Shkodra gibt es auch ein Kinder- und Jugendzentrum, in dem sich von Blutrache bedrohte Kinder treffen können: "Wir holen sie mit dem Auto ab, damit sie nicht gefährdet werden."

Doch die Tradition der Blutrache sei für viele albanische Christen und Muslime eine Art Nebenreligion: "Jeder Junge weiß, dass er mit der Geburt auch für seine Sippe sein Blut geben muss, wenn es gefordert ist; ebenso auch, dass er eventuell das Blut des anderen nehmen muss, also eventuell zum Rächer wird." Schwester Christina sind schon vierjährige Jungen begegnet, die ihr sagten: "Ich werde einmal meinen Vater rächen, wenn ich groß bin." Doch sie versucht, den Jugendlichen bei ihrer Auseinandersetzung mit diesen Traditionen zu helfen und ihnen in Gesprächen zu vermitteln, dass das Töten nur weiteres Leid bringt.

Dem Staat ist noch nicht gelungen, dem Morden aus Blutrache ein Ende zu setzen. Nun hofft die katholische Kirche, etwas ändern zu können: Denn gerade für die Mehrheit der Bergbewohner in Nordalbanien spielt der katholische Glaube eine große Rolle.