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Sibirien erlebt "ein neues Klimaphänomen"

15. Juli 2020

Seit Monaten herrschen in der russischen Arktis anomal hohe Temperaturen. Dieses Wetterextrem gibt der Wissenschaft Rätsel auf. Die DW sprach mit dem Klimaforscher Anders Levermann.

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Russland Waldbrände
Ungewöhnlich hohe Temperaturen ungewöhnlich lange: Waldbrände auf der russischen Halbinsel KamtschatkaBild: picture-alliance/dpa/D. Voroshilov

"Wir verstehen nicht, was in Sibirien gerade passiert. Das ist ein neues Phänomen", erklärte Anfang Juli der renommierte deutsche Klimaforscher Anders Levermann vom Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung (PIK). Die Deutsche Welle hat bei ihm nachgefragt.

Deutsche Welle: Sibirien erlebt gerade eine Hitzewelle, die auch zahlreiche Waldbrände verursacht. Nun sind hohe Sommertemperaturen in diesem Teil Russlands nichts Ungewöhnliches, man denke nur an vergangenes Jahr. Was genau ist es, was Sie und andere Wissenschaftler zurzeit so verblüfft?

Anders Levermann: Uns ist natürlich bekannt, dass es im Sommer in Sibirien sehr warm werden kann. Und wir wissen auch, dass die globale Erwärmung in arktischen Breiten besonders schnell verläuft. Aber wir beobachten nun seit mehr als sechs Monaten Temperaturen, die im Durchschnitt um sieben Grad höher sind, als es in der jeweiligen Jahreszeit sein sollte. Das ist es, was wir nicht verstehen: Warum hält diese anomale Hitze so lange an? Es ist ein neues Klimaphänomen, das jetzt erforscht werden muss.   

Was könnten die Ursachen sein?  

Es hängt offensichtlich mit der Luftströmung in der Atmosphäre zusammen, mit dem sogenannten Jetstream. Man kann ihn sich in Form eines Bandes vorstellen, das sich einmal um die Erde in mittleren Breiten schlingt, etwa auf der Höhe von Moskau und Berlin. Aber je mehr wir Menschen unseren Planeten erwärmen, desto mehr schwankt dieses Band nach Norden und Süden. Diese Wellen führen dann weltweit zu enormen Wetterextremen, und zwar gleichzeitig sowohl zu Dürren als auch zu schweren Überschwemmungen, obwohl das anfangs widersinnig klingt.

Deutschland Anders Levermann
"Wir müssen ohne fossile Energieträger auskommen": Klimaforscher Anders Levermann Bild: PIK/K. Karkow

Das war beispielsweise schon 2010 der Fall, als ganz Moskau wegen brennender Torfmoore in Rauch gehüllt war. Damals war der Jetstream einfach stehengeblieben, und über großen Teilen Russlands hielt sich sehr lange ein stabiles Hochdrucksystem, es gab keinen Regen, es kam zu Bränden. Zur selben Zeit setzte sich über Pakistan ein Tiefdrucksystem fest, und dies führte wiederum zu so starken Regenfällen und Überschwemmungen, dass auf pakistanischem Boden kurzzeitig sogar der größte Süßwassersee der Erde entstand.

Warum blieb damals der Jetstream stehen? Warum hat sich 2020 über Sibirien ein so stabiles Hochdruckgebiet mit anhaltender Hitze gebildet?  

Das könnte mit dem Schmelzen des Meereises an der Polarküste Sibiriens zusammenhängen, es ist in diesem Jahr enorm zurückgegangen. Wir haben Beobachtungen und theoretische physikalische Modellstudien, die das skandinavische Meereis betreffen. Wenn dieses Eis im Winter aufbricht, entsteht dort häufig ein stabiles Hochdrucksystem. Denn wenn es weg ist, wird weniger Sonnenlicht zurück ins All reflektiert, und das erwärmt das Meer und die angrenzenden Gebiete noch stärker. Etwas ähnliches scheint gerade in Sibirien der Fall zu sein. Aber ich kann nur wiederholen: Es ist verblüffend, wie lange das anhält. 

Man kann sich gut vorstellen, dass viele Sibiriaken damit durchaus zufrieden sind und in diesem Sommer das Baden in ihren unerwartet warmen Seen und Flüssen genießen. 

Die aktuelle Hitze führt jedoch nicht nur zu zahlreichen Waldbränden, sondern auch zu einem weiteren, tieferen Abschmelzen des Permafrostes in Sibirien, was zu Infrastrukturschäden führen kann - an Pipelines, Straßen, Gebäuden. Es wächst also die Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Folgen. Andererseits setzt das Tauen des Permafrostes immer mehr Methan  in die Atmosphäre frei, und Methan ist ein vielfach stärkeres Treibhausgas als CO2. Das ist eine langfristige globale Bedrohung, denn steigende Methan-Emissionen in Sibirien würden die Erderwärmung und somit auch den weltweiten Klimawandel beschleunigen, was die Menschheit ja gerade verhindern will.   

Nun gibt es gerade in Russland sehr viele Menschen, die meinen, der Klimawandel, wenn es ihn denn überhaupt gebe, sei nicht menschengemacht und könne somit auch nicht gestoppt werden. Und Wissenschaftlern, die das Gegenteil behaupten, wird vorgeworfen, sie bedienten ideologische Dogmen. Was würden Sie darauf antworten?

Das ist Quatsch! Wir wissen seit über 150 Jahren, welchen Gesetzen Wasserdampf unterliegt, wir wissen seit über 100 Jahren, was das CO2-Molekül mit Licht macht. Es lässt nämlich Sonnenlicht rein, aber das von der Erde abgestrahlte infrarote Licht nicht mehr raus, und das erwärmt den Planeten und die Temperatur erhöht sich mit steigender CO2-Konzentration in der Atmosphäre. Das ist elementare Physik!

Was muss also getan werden, um den Klimawandel zu stoppen?

Die Leute denken immer, jeder einzelne müsse auf etwas verzichten. In Wirklichkeit geht es darum zu lernen, unsere Wirtschaft, unsere Technologien anders als früher zu betreiben und die gesamte Weltwirtschaft dazu zu bringen, ohne fossile Energieträger auszukommen. Das geht nicht von heute auf morgen, aber in 30 Jahren ist das zu schaffen, und es muss geschafft werden.

Anders Levermann ist Professor für die Dynamik des Klimasystems am Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung (PIK). Der 47-Jährige lehrt am Institut für Physik der Universität Potsdam und der Columbia University in New York. 

Das Interview führe Andrey Gurkov.