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Kolumne: Hinter den Kulissen der Berliner Philharmonie

Gero Schließ18. September 2016

Der Abend sollte eine unvergessliche Begegnung mit dem Mythos der Berliner Philharmoniker werden. Überraschend und überwältigend! Dabei fing alles für Gero Schließ ganz unspektakulär an.

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Berlin Walter Küssner, Bratscher der Berliner Philharmoniker (c) DW/G. Schließ
Bild: DW/G. Schließ

Es begann mit einem Konzert unter dem Motto "Klassik trifft Jazz" im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie. Ein Ensemble aus Musikern der Berliner Philharmoniker spielte Werke von Duke Ellington und Jaques Loussier.

Zehn Musiker saßen auf der Bühne des Kammermusiksaals, der von der Architektur her eine kleinere Version des großen und berühmteren Sinfoniekonzertsaals ist. Letzterer wurde Anfang der 1960er Jahre erbaut, nicht weit von der damaligen Berliner Mauer. Der Kammermusiksaal wurde 1987 eingeweiht. Unter den Ensemblemitgliedern war auch der Bratschist Walter Küssner.

08.2016 Kolumne Gero Schließ, dw Grafik
Berlin 24/7 - Gero Schließ sieht Berlin mit anderen Augen

Nach dem Schlussbeifall Gratulation, Händeschütteln und die Verabredung mit Küssner auf ein Bier. Wir kennen uns über gemeinsame Freunde und wollen über neue Projekte sprechen. Doch es kommt anders.

Statt zum Bier in die Kantine geht es in den großen Konzertsaal, der an diesem Abend leer ist. Eigens für uns beide wird das Licht angeknipst. Und Walter Küssner zieht mich auf die Bühne, dort wo schon der legendäre Herbert von Karajan dirigierte.

Traumberuf Berliner Philharmoniker

Küssner hat oft hier gesessen, für mich ist der Blick in das weite Rund der leeren Sitzreihen neu und atemberaubend. Und dann packt Küssner die Bratsche aus und spielt. Melodien aus Bratschenkonzerten und einfach, was ihm einfällt. Küssner kommt ins Erzählen:

Walter Küssner spielt Bratsche (c) DW/G. Schließ
Walter Küssner auf der Bühne der Berliner PhilharmonieBild: DW/G. Schließ

Schon als Kind habe er "ein bisschen angeberisch" gesagt, dass er Berliner Philharmoniker werden wolle. Später dann, nach dem Studium in Düsseldorf, New York und St. Louis war es so weit. Nach einer Zwischenstation beim Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks gewann er 1988 das Probespiel in Berlin: "Nach zwei Wochen war mir klar, ich will hier nie wieder weg." Küssners Begeisterung ist auch nach fast 30 Jahren noch ansteckend: "Ich kann mir kein größeres Glück vorstellen, als mit diesem Orchester zu musizieren", sagt er mit glänzenden Augen. Nicht nur die Kollegen spielten unfassbar gut. Alles im Umfeld stimme einfach. "Das ist für mich die Erfüllung!"

Vor Aufregung beschlug Küssner die Brille

Dabei hatte es für Küssner enttäuschend angefangen: Der damals schon alte und kranke Herbert von Karajan habe kaum Notiz von ihm genommen.

Herbert von Karajan mit Falken auf dem Arm (Photo by Keystone/Hulton Archive/Getty Images)
Erinnerungen an den grantelnden Herbert von KarajanBild: Keystone/Hulton Archive/Getty Images

Selbst auf das obligatorische Vorspiel des "Neuen" habe er grantelnd verzichtet und ihn mit der Bemerkung abgespeist: "Ach, spielt der gut? Dann brauche ich ihn nicht zu hören." Nur einmal ist Küssner Karajan aufgefallen, und zwar unfreiwillig, als er mitten im Konzert in die Generalpause hineinspielte: "Plötzlich wandten sich alle Köpfe ruckartig in meine Richtung und vor lauter Aufregung ist meine Brille von innen beschlagen".

Abbados Gänsehautmomente

Ganz anders war es für Küssner unter Karajans Nachfolger Claudio Abbado."Der Dirigent meines Lebens", sagt er. Zwar probte Abbado bekanntermaßen lausig, doch verdanken Musiker und Publikum ihm viele "Gänsehausmomente". An Simon Rattle, der nachfolgte, bewunderte Küssner seine "faszinierende Eloquenz und Klugheit". Während Abbado im Konzert auf die Inspiration vertraute, habe Rattle für alles einen "Plan".

Claudio Abbado dirigiert (Photo by Erich Auerbach/Getty Images)
Der Dirigent seines Lebens: Claudio AbbadoBild: E. Auerbach/Getty Images

Doch wer auf der Bühne der Philharmonie steht, der merkt schnell, dass die Faszination Berliner Philharmoniker nicht nur mit Orchester und Dirigenten zu tun hat, sondern auch mit dem Saal selbst.

Der Saal und der Orchestersound der Berliner Philharmonie

Der Klang des Orchesters wird durch den Saal geprägt. "Er beeinflusst die Art, zu musizieren", stimmt Küssner zu. Der warme und kraftvolle Sound der Berliner wäre ohne Scharouns Philharmonie nicht denkbar. Auch das macht den Mythos der Berliner Philharmoniker aus.

Deutsche Sehenswürdigkeiten
Ort vieler persönlicher Geschichten: Die Berliner Philharmonie.Bild: picture alliance/L. Avers

Nach Küssners philharmonischer Erzählung am authentischen Ort geht es dann doch hinter die Bühne, in die Kantine, wo abgewetzte Küchentheken und umherstehende Instrumentenkästen nicht gerade eine heimelige Atmosphäre schaffen. Heute sind wir alleine hier – nur mit einem Mitarbeiter der Küche, der kurz vor Dienstschluss schon mal einige Biere auf Vorrat auf den Tisch stellt.

"Das Reichsorchester"

Hinter uns hängen Bilder von früheren Spielstätten, dem Titania-Palast oder der alten Philharmonie, die kurz vor Kriegsende ausgebombt wurde.

Das bringt das Gespräch auf die Vergangenheit und Küssners "Nebenjob" als Archivar der Philharmoniker. In dieser Funktion hat er die Aufarbeitung der Orchestergeschichte unter den Nationalsozialisten angestoßen, denn das Orchester unterstand direkt Propagandaminister Goebbels. Das brachte Privilegien und finanzielle Sicherheit - kompromittierte das Orchester später aber auch: "Die Berliner Philharmoniker waren die Propagandainstitution des Propagandaministeriums", so Küssner.

In dem von ihm angeregten Buch "Das Reichsorchester" von Misha Asta wird das alles minutiös dargestellt. Damals, im Jahre 2007, brachte Küssner diese schonungslose Aufarbeitung in den eigenen Reihen nicht nur Freunde. Doch aus seiner Sicht hat das Orchester davon "enorm profitiert". Freiwillig und früher als andere hätten sich die Berliner der Geschichte gestellt. Möglicherweise gehört auch das zum Mythos: Selbst aus Krisen und unheilvollen Verstrickungen am Ende gestärkt hervorzugehen.