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Abschied vom Nationalstaat? Nein danke!

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp
12. März 2016

Lange Zeit hieß es, er sei überflüssig geworden. Doch nun hat der Nationalstaat Konjunktur. Das ist gut, denn er ist der effizienteste Raum politischer Organisation - wenn er seine Aufgaben erfüllt, meint Kersten Knipp.

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Flaggen der EU-Mitgliedstaaten vor dem Europäischen Parlament, 08.09.2015 (Foto: Bernd Riegert, DW)
Bild: DW/B. Riegert

Ein paar Monate wurde sie gefeiert, jetzt aber droht sie von der Bühne zu verschwinden: die internationale Solidarität. Eigentlich sollten sie bei der Aufnahme der Schutzsuchenden an einem Strang ziehen. Tun sie aber nicht. "Beim Thema Registrierung und Verteilung hat die europäische Kooperation und Solidarität völlig versagt", erklärte im Februar Enrico Grandi, Chef des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR.

Wo ist sie hin, die Solidarität? Sie hat sich ganz offenbar verschanzt hinter sicheren Grenzen - den Grenzen der europäischen Nationalstaaten. Das offenbart, dass das viel beschworene Ende eben dieser Nationalstaaten voreiliges Gerede ist. Man kennt die Argumente: Globalisierung und Europäisierung hätten die Grenzen durchlässig werden lassen, supranationale Institutionen setzten sich über sie hinweg, heißt es. Ethnische und kulturelle Vielfalt hätten die frühere Homogenität der Nationen de facto überwunden. Schon war von "postnationaler Bürgerschaft" die Rede, von "Global Citizens", die den behäbigen Staatsbürger alter Schule absehbar ablösen würden.

Fürsorgepflicht des Staates

Jetzt zeigt sich, dass dem nicht so ist. Und es ist nicht ohne Ironie, dass just Deutschland, das über Monate hinweg seine Grenzen nahezu völlig außer Kraft gesetzt hat, Anhängern des Nationalstaates für dessen Erhalt die besten Argumente liefert. Es bleiben genügend Fragen, auf die Deutschland als Nationalstaat Antworten schuldig bleibt.

Dabei geht es nicht um die ohnehin sehr schwammige Frage der nationalen Identität. Es geht um die sehr konkrete Frage nach der Leistungsfähigkeit eines Staates gegenüber seinen Bürgern - selbstverständlich allen Bürgern, auch jenen mit ausländischen Wurzeln.

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DW-Autor Kersten Knipp

Denn es ist alles andere als klar, wie der deutsche Staat eine seiner vornehmsten Aufgaben, nämlich die Fürsorgepflicht, künftig realisieren will. Eines ist absehbar: Die bisherigen Verteilungskämpfe werden sich weiter verschärfen, und zwar gerade unter jenen Gruppen, die es schon bislang am schwersten haben. Die Konkurrenz auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt wird besonders für die, die geringer qualifiziert sind und weniger verdienen, deutlich zunehmen.

Auflösung der politischen Milieus

Die Menschen, die sich diesen Kämpfen stellen müssen, bildeten lange Zeit die Stammwählerschaft der SPD. Zwar haben die politischen Milieus alter Prägung sich längst aufgelöst - aber entbindet das die Sozialdemokraten von der Pflicht, sich um all jene zu kümmern, die auf den Schutz ihrer Politik angewiesen sind? Wie die SPD Interessen der Schwächsten unter verschärften Bedingungen vertreten will, hat sie bislang nicht zu erkennen gegeben - sofern sie das denn will.

Oder ist die internationale nun der Ersatz für die nationale Solidarität? Denn die - Stichwort: Obdachlosigkeit in deutschen Städten - bleibt bislang weit hinter den Ansprüchen zurück. Die Rede vom internationalen Zusammenhalt klingt gut. Bleibt nur die Frage, wie er umzusetzen wäre. Dass auch die CDU auf diese Frage keine Antwort gegeben hat, versteht sich von selbst. An diesen Antworten hängt aber die Legitimität, und zwar der Parteien ebenso wie die des Nationalstaates.

Die Krise als Chance?

Ersatzweise wird derzeit viel vom Umbau der Gesellschaft phantasiert - als ob der sich mir nichts, dir nichts durchsetzen ließe: Die internationalen Unternehmen müssten endlich stärker besteuert werden, heißt es. Die Reichen und Schönen müssten stärker in die Pflicht genommen werden, und selbstverständlich auch ihre Erben.

Mag sein. Nur wurde das über Jahre nicht umgesetzt. Ob dazu ausgerechnet jetzt, in Zeiten der Krise, die Kraft reicht? Vielleicht ist die Migrationskrise ja sogar eine Krise im positiven Sinne, ein Moment des Umschlagens also, durch den die Gesellschaft sich ganz neu entdeckt und am Ende tatsächlich als bessere dasteht? Zu wünschen wäre es. Ausgemacht ist es leider nicht. Solange haben die Anhänger des Nationalstaats ein paar gute Argumente auf ihrer Seite. Denn bislang ist er der effektivste Raum politischer und gesellschaftlicher Organisation, den wir kennen.

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DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika