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Debattenkultur auf dem Tiefstand

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp
4. November 2015

In der Flüchtlingsdebatte verhärten sich die Fronten. Argumente verwandeln sich in Bekenntnisse, politische Gegner stellen einander unter Generalverdacht. Der politischen Kultur tut das nicht gut, meint Kersten Knipp.

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Ein Absperrband der Polizei markiert in Köln eine Demonstration von als gewaltbereit geltenden Hooligans, am 26.10.2014 (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa/C.Seidel

Deutschlands Ökonomen sind am Rechnen: Was bedeutet die Zuwanderung wirtschaftlich? Nutzt sie dem Land oder wird es dadurch belastet? Die Antworten fallen unterschiedlich aus: Die Einwanderung könnte Vorteile bringen, sagen die einen. Die Nachteile werden überwiegen, sagen die anderen. Genaueres wird man wohl erst in ein paar Jahren wissen.

Fest steht hingegen: Mit seiner Flüchtlingspolitik setzt Deutschland derzeit vor allem auf das Prinzip Hoffnung. "Wir schaffen das" heißt es, und in der einen Hauch zaghafteren Variante: "Wir können es schaffen." Und noch einen Tick verhaltener: "Wir müssen es schaffen!"

Wildes Denken

Das stimmt: Deutschland muss es schaffen. Es geht gar nicht mehr anders. Das Land ist zum Erfolg verdammt. Darum übt es sich im positiven Denken. Man könnte auch sagen im magischen oder "wilden" Denken, wie es der Ethnologe Claude Lévi-Strauss einst genannt hatte.

Nun kann Magie vieles vertragen, eines aber nicht: Kritik. Kritik, das distanzierte, verhaltene Wort, unterläuft die Glaubensgemeinschaft, droht sie zu zersetzen. Wenn die Welt kaum mehr ist als Wille und Vorstellung, stört schon der leiseste Zweifel. Darum wird er sanktioniert, mit einem Tabu belegt. Genau das scheint in Deutschland in Sachen Zuwanderung derzeit der Fall zu sein.

Erziehungsauftrag der Medien?

Beweisen lässt es sich nicht, aber Gespräche mit Freunden, Bekannten, Kollegen - wenngleich längst nicht mit allen - lassen einen Schluss zu: Viele Bürger sind irritiert über die Art und Weise, wie über die Zuwanderung diskutiert wird. In den Medien etwa. Viele von diesen, so ein weit verbreiteter Eindruck, berichten in ungewohnter Einmütigkeit. Ganz so, als wären sie nicht mehr der Information, sondern der Erziehung des Lesers verpflichtet. Als wollten sie ihm nicht zu kritischer Distanz verhelfen, sondern ihn zur möglichst vorbehaltlosen Unterstützung der Berliner Flüchtlingspolitik animieren. Die längst nicht mehr ironisch gemeinte Frage, ob Journalisten ihr Publikum eigentlich für dumm verkaufen wollten, ist in den Leserforen der großen Medien längst zum geflügelten Wort geworden.

Überhaupt lässt die Debattenkultur des Landes zu wünschen übrig. Über Transitzonen kann man streiten. Aber die zum Ausland offenen Unterkünfte als "Haftanstalten", "Massenknäste" oder "Gefangenenlager" zu diffamieren, vergiftet die Diskussion. Ähnlich verhält es sich mit dem Vorschlag, Deutschlands Grenzen abzuriegeln. Es gibt Gründe, das nicht zu tun. Aber das Argument, die Grenzen zu schließen, sei "unmöglich", ist falsch. Es gibt genügend Grenzen in dieser Welt, die das Gegenteil beweisen. Zwar halten sie nicht alle Eintrittswilligen ab, aber doch die allermeisten. Man kann für Abschottung oder dagegen sein. Aber zu behaupten, Abschottung sei nicht machbar, ist unehrlich.

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Kersten Knipp

Gefährliche Tabus

Die Flüchtlingsdebatte ist mit gefährlich vielen Tabus behaftet. Oft genug sind sie auch überflüssig. Denn nicht jeder Vorbehalt ist Zeichen rechtsnationaler Gesinnung. Er kann auch schlicht dem Umstand entspringen, dass man Argumente als nicht überzeugend empfindet. Ebenso wenig spiegelt jedes Unbehagen angesichts der hohen Zahl von Einwanderern automatisch ein radikales Weltbild. Genauso gut kann sich darin die Sorge ausdrücken, dass sich das eigene Land am Ende übernimmt. Bei rund 10.000 Flüchtlingen pro Tag ist diese Sorge nicht ganz unbegründet. Noch weniger ist sie es, wenn man diese Zahl für die kommenden Monate hochrechnet.

Gedanken an Baseballschläger oder Schusswaffen müssen sich darum trotzdem nicht aufdrängen. Das Gegenteil ist der Fall: Echte Skeptiker stellen zu allererst ihre eigene Skepsis in Frage. Sie erkennen Fortschritte auch und gerade da an, wo sie Misserfolge befürchteten. Sie lachen nicht hämisch über Fehlschläge, sondern freuen sich über Erfolge - insbesondere die nicht für wahrscheinlich gehaltenen.

Die Debatte um die Einwanderung muss entspannter werden. Auf keiner Seite dürfen Argumente zu Dogmen verkommen, Sachfragen zu Gesinnungsfragen mutieren. Geschieht das, droht in Deutschland die vielleicht wertvollste europäische Errungenschaft überhaupt verloren zu gehen: die Kunst und Kultur des Zweifels.

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika